Erst Sex, dann mal schauen: der muntere Liebesfilm „Wo in Paris die Sonne aufgeht“
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Anfangs läuft es gut: Makita Samba (rechts) als Camille und Noemie Merlant als Nora in einer Szene des Films „Wo in Paris die Sonne aufgeht“.
© Quelle: -/Neue Visionen Filmverleih/dpa
Paris, die Stadt der Liebe? Das klingt jetzt nicht nach einem originellen Einfall, genauso wenig wie der deutsche Verleihtitel „Wo in Paris die Sonne aufgeht“. Doch sollte man sich von solchen Etiketten nicht abschrecken lassen: Das Postkarten-Paris bleibt in diesem Film komplett ausgespart – zumal er in Schwarz-Weiß daherkommt. Keine Spur von Eiffelturm oder Champs-Élysées ist hier zu entdecken. Und es geht auch um mehr als um Turteleien.
Der französische Originaltitel „Les Olympiades“ führt schon eher auf die richtige Spur: Angesiedelt sind die Pärchenbildungen und Pärchentrennungen im 13. Pariser Arrondissement, in dem die heruntergekommenen Hochhäuser „Les Olympiades“ heißen.
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Majestätisch schwenkt die Kamera zu Beginn über die sich türmenden Fensterfronten, als suche sie in einzelnen Wohnzimmern das Individuelle in der Anonymität. Touristinnen und Touristen dürften sich eher selten in dieses Viertel verirren, das von vielen Asiaten bewohnt wird. Eine davon ist die chinesischstämmige Émilie (Lucie Zhang), deren Liebesleben wir bald schon genauer kennenlernen.
Überraschend ist allerdings der Regisseur hinter dem Werk: Jacques Audiard ist eher bekannt als Freund harter Männerfilme wie „Ein Prophet“ (2009) oder auch „Dämonen und Wunder“ (2015). Genauso hat der Franzose aber auch die wunderschöne Liebesgeschichte „Der Geschmack von Rost und Knochen“ (2012) zwischen einem einsamen Boxer und einer beinamputierten Orcatrainerin inszeniert.
Aus der Frauenperspektive
In seiner aktuellen Verfilmung von drei Kurzgeschichten des New Yorker Cartoonisten Adrian Tomine nimmt Audiard die Perspektive vornehmlich von Frauen ein. Er hat bei seinem Drehbuch mit den Filmemacherinnen Léa Mysius („Ava“) und Céline Sciamma (gefeiert für „Porträt einer Frau in Flammen“ und gerade auch für „Petite Maman“) weibliche Expertise gesucht. Das kommt dem psychologisch reichen Innenleben seiner Protagonistinnen zugute – wobei er erstaunlich ausgiebig nackte Brüste filmt.
Zu Romantik besteht erst mal kein Anlass, da muss man nur mal Émilie fragen: „Erst vögeln, dann schauen“: So lautet – angeblich nach einem chinesischen Sprichwort – ihr Lebens- und Liebesmotto. Danach verfährt sie auch mit dem versehentlich als Untermieter aufgenommenen Lehrer Camille (Makita Samba), den sie bei dessen Bewerbung aufgrund des Namens für eine Frau hielt.
So cool ist die Callcentermitarbeiterin dann aber doch nicht: Émilie verliebt sich in den Untermieter, er sich aber nicht in sie. Damit ist die Antriebskraft dieses munteren Beziehungsreigens benannt: Die Anziehungskräfte wirken selten auf beiden Seiten gleichzeitig.
Künstlername: Amber Sweet
Der beinahe arrogant selbstbewusste Camille zieht schnell weiter und wechselt mal eben – enttäuscht vom reglementierten Pädagogendasein – in die Immobilienbranche. Er trifft auf die aus der Provinz herbeigereiste Nora (Noémie Merlant), die ihr Jurastudium abgebrochen hat, sich in ihrem Körper unwohl fühlt und bald mehr als seine Mitarbeiterin wird.
Nora wiederum ist nicht so sehr Camille zugetan als vielmehr der Internetsexarbeiterin Louise (Jehnny Beth), die unter dem Künstlernamen Amber Sweet ihre Dienste anbietet. Louise sieht Nora zum Verwechseln ähnlich, und nur deshalb ist Nora unter für sie unangenehmen Umständen auf Louise aufmerksam geworden. Die wachsende Nähe zwischen den beiden, wenn sie abends vor ihren Laptops lümmeln und quatschen, ist ein verblüffender Kontrast zum Sex im Zeitalter der Onlineportale.
Das wäre auch schon (beinahe) das gesamte erotische Personal. Man würde gern wissen, was Éric Rohmer, François Truffaut oder auch andere einstige Vertreter der Nouvelle Vague zu diesem Film gesagt hätten. Auch sie präsentierten amouröse Versuchsanordnungen mit lebensnahen Dialogen.
Der Regisseur Audiard liefert gewissermaßen ein modernes Update: Die Besetzung ist ganz selbstverständlich divers. Soziale Medien sind allgegenwärtig. Émilie versucht es nach dem Auszug von Camille erst mal mit Dating-Apps, die sie ihm bei gelegentlichen Treffen unter die Nase hält. Vielleicht lässt sich doch noch Eifersucht schüren.
Es gab mal eine deutsche Komödie, die den überlangen Titel „Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit“ trug. Audiard liefert die weit überzeugendere Version davon. Er nimmt seine mehr oder weniger Verliebten ernst – und er probiert aus, was Freundschaft, Sex und Liebe im 21. Jahrhundert ausmachen könnte.
Nebenbei erzählt er von den inneren Befindlichkeiten junger Menschen um die 30. Und er wirft ein Schlaglicht auf fragile soziale Lebensumstände dieser Generation. „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ ist ein unangestrengter, zeitgemäßer, aufschlussreicher Liebesfilm. Und Paris ist ja vielleicht doch immer noch die Stadt der Liebe, sogar im 13. Arrondissement.
„Wo in Paris die Sonne aufgeht“, Regie: Jacques Audiard, mit Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth, 106 Minuten, FSK 16