Immer kürzer, immer simpler: Wie Tiktok und Spotify die Popmusik verändern
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Die App Tiktok verändert die Musikwelt.
© Quelle: Kiichiro Sato/AP/dpa
Hannover. Werfen wir zu Beginn dieses Textes einen Blick zurück auf das Jahr 1991. Damals, vor inzwischen genau 30 Jahren, veröffentlichte die Band Nirvana einen Song, der später einmal ihr erfolgreichster werden würde: „Smells like Teen Spirit“, eine Rockhymne, die vor allem durch ihr prägnantes Intro und das darin enthaltene Gitarrenriff zum Welthit wird – und selbst heute noch viele junge Menschen inspiriert.
Es lohnt sich, diesen Song einmal genauer unter die Lupe zu nehmen – denn er unterscheidet sich maßgeblich von der Rock- und Popmusik, die im Jahr 2021 veröffentlicht wird. Und dabei geht es gar nicht um die Produktion, die sich in 30 Jahren dank vieler technischer Möglichkeiten selbstverständlich verändert hat. Es geht auch gar nicht um die vielen Hypes und Trends und Sounds, von denen über die Jahrzehnte unweigerlich immer neue in die Popmusik eingeflossen sind. Es geht allein um die Art und Weise, wie der Song eigentlich aufgebaut ist.
Langes Intro, noch längeres Gitarrensolo
Das erwähnte Gitarrenintro bei Nirvana läuft zunächst ganze 15 Sekunden lang, ehe eine weitere, weitaus ruhige Instrumentalstrecke einsetzt und den Zuhörenden auf die erste Strophe der Hymne vorbereitet. Erst ab Sekunde 26 greift Kurt Cobain zum Mikrofon – nun ist in „Smells like Teen Spirit“ erstmals seine Stimme zu hören.
Es folgt eine ungewöhnlich lange erste Strophe, ehe mit „Hello, hello, hello“ der erste Ohrwurm des Songs einsetzt – die Bridge. Nach dem Refrain mit dem ikonischen Gitarrenriff folgt wieder ein Instrumentalpart, dann die zweite Strophe, dann der Refrain, dann ein Gitarrensolo und schließlich sogar noch eine dritte Strophe samt Refrain.
Erst nach 4:38 Minuten endet „Smells like Teen Spirit“ schließlich mit Cobains Stimme und einem langen, aushallenden Gitarrenakkord.
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Musik wird immer kompakter
Und wie funktioniert Rockmusik im Jahr 2021? Nehmen wir als Beispiel das einigermaßen vergleichbare Stück „Monsters“ der US-Pop-Punk-Band All Time Low aus Baltimore. Dieses hat zwar auch ein Gitarrenriff, jedoch spielt dieses nur eine untergeordnete Rolle. Der Song beginnt auch nicht allein mit Gitarren und einem langen Aufbau – sondern direkt mit dem Refrain. Ein Trend, der sich bei vielen aktuellen Popsongs beobachten lässt.
Was folgt ist unmittelbar die erste Strophe, gefolgt von einer kurzen Bridge und dem Refrain, an den sich ohne auch nur eine einzige Verschnaufpause ein Rappart von Superstar Blackbear anschließt. Gitarrensoli fehlen gänzlich, einen Instrumentalpart hat der Song nur auf seinen allerletzten zehn Sekunden. Nach gerade einmal 2:54 Minuten ist das Stück auch schon zu Ende.
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Nun kann man es verwerflich finden, die Kultband Nummer eins, Nirvana, mit irgendeiner kommerziellen Chartrocktruppe zu vergleichen – doch darum geht es gar nicht. Die Beispiele zeigen eindrücklich, wie sich moderne Popmusik in den vergangenen Jahren verändert hat: Sie wird immer kürzer – und immer kompakter.
Kaum ein Song ist noch länger als 2:50 Minuten
Tatsächlich gibt es dazu sogar Untersuchungen. Das Magazin „Quartz“ beispielsweise hatte bereits 2018 analysiert, dass die Länge von modernen Popsongs von 2013 bis 2018 von durchschnittlich 3:50 Minuten auf durchschnittlich 3:30 Minuten geschrumpft war. Das spiegelt heute, drei Jahre später kaum noch die Realität wider: Blickt man auf die vorderen Plätze der aktuellen deutschen Charts, so kommen viele erfolgreiche Hits über die Marke von 2:50 Minuten gar nicht mehr hinaus.
„Wenn du mich siehst“ von RAF Camora ist nach 2:51 Minuten zu Ende, „Stay“ von The Kid Laroi schon nach 2:22 Minuten. Bei „Good 4 u“ von Olivia Rodrigo ist nach 2:58 Minuten Schluss, bei „Friday“ von Riton und Nightcrawlers nach 2:48 Minuten. Natürlich gibt es auch Ausnahmen: „Bad Habits“ von Ed Sheeran zum Beispiel läuft fast schon erstaunliche 3:51 Minuten, „Love Tonight“ von Shouse sogar vier Minuten. Letzterer Song ist jedoch bereits vier Jahre alt und schaffte erst in diesem Jahr einen unverhofften kommerziellen Erfolg.
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Auch bei der Struktur der Songs gibt es immer wieder Parallelen. „Stay“ von The Kid Laroi und Justin Bieber kommt mit gerade mal zwei Strophen und zwei Refrains aus, dann ist schon wieder Schluss. Der Song gehört zu den aktuell erfolgreichsten Viralhits auf der Plattform Tiktok.
Wenn Tiktok und Spotify die Musikproduktion bestimmen
Auf ein völlig neues Level heben den Trend zur Kürze Künstlerinnen wie etwa die Britin PinkPantheress. Sie war in diesem Jahr mit gleich mehreren Songs in den britischen Charts vertreten, etwa „Pain“ oder „Break it off“. Beide Songs sind nicht länger als 1:40 Minuten. Ihre Songs hatten sich vor dem kommerziellen Erfolg ebenfalls vor allem auf der Plattform Tiktok verbreitet.
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Und damit sind wir auch schon beim Erklärungsansatz, warum Musik heute so klingt wie sie klingt – und warum sie augenscheinlich immer kürzer wird. Es sind die neuen Plattformen, wie eben die Hype-App Tiktok oder der Streamingdienst Spotify, die neuerdings den kommerziellen Erfolg von Songs bestimmen – und damit die Art und Weise, wie sie produziert werden.
Marcus S. Kleiner ist Popmusikexperte und Studiengangleiter Medien und Kommunikation an der SRH Berlin University of Applied Sciences. Er beobachtet die Veränderung in der Popmusik schon länger – insbesondere seit dem Aufkommen der Musik-Streamingdienste. „Auf Spotify zeigt sich: Ein erfolgreicher Popsong ist nicht mehr länger als zweieinhalb Minuten. Musikalisch bedeutet das, das bekannte Elemente wie etwa das Intro eines Songs häufig komplett wegfallen, auch Soli hört man heute kaum noch. Alles wurde sehr viel kompakter“, erklärt Kleiner dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Mehr Geld für kürzere Songs
Das habe mit der veränderten Musiknutzung durchs Streaming zu tun. „Nutzerinnen und Nutzer skippen durch die Songs, statt sie in Ruhe in voller Länge anzuhören. Gefällt ein Song in den ersten Sekunden nicht, wird er weitergeskippt.“ Plattformen wie Tiktok, die in den vergangenen Jahren hinzukamen, bezeichnet Kleiner als die „extreme Form“ dieses Trends. Tiktok sei ein „riesiges Buffet voll mit kleinen Musikhäppchen, die man immer weiterwischt. Ein Song, der in wenigen Sekunden überzeugt, wird zum Hit.“
Produzentinnen, Produzenten und Plattenfirmen hätten sich natürlich längst auf diesen Trend eingestellt. Songs würden heute sogar extra so produziert, dass sie gut auf Plattformen wie etwa Tiktok funktionieren, erklärt der Musikwissenschaftler und Buchautor Markus Henrik alias „Dr. Pop“ („Dr. Pops musikalische Sprechstunde“) dem RND. „Tiktok ist mit seiner erstaunlichen Reichweite in der Lage, kleine Ohrwürmer und knackige Soundpattern millionenfach zu verbreiten. Es gibt eigene Tiktok-Hits. Und wer die nutzt, hat gute Chancen, dass das eigene Video vom Algorithmus belohnt wird. Profis in der Popindustrie sind sich dessen bewusst. Bei Produktionen wird darüber nachgedacht, ob sich ein Song oder ein bestimmter Ausschnitt für TikTok eignet.“ Popproduktionen seien häufig hochindustrielle Prozesse.
In Sachen Streamingdienst hat die neue Kürze von Songs vor allem finanzielle Gründe. „Spotify und Co. rechnen Songs ab, wenn sie 31 Sekunden gelaufen sind. Viele Songs, gerade im Deutschrapbereich, können quasi in Dauerschleife gehört werden. Die Hintergrundloops sind nämlich völlig konstant. Ist der Song nach zwei Minuten vorbei, wird er nochmal angeklickt: Mehr Klicks bedeuten mehr Geld“, so „Dr Pop“. „Das ist ein großes Problem aktuell. Ein Song wie ,Stairway to Heaven‘ mit gut acht Minuten Spielzeit wäre heutzutage im Streamingumfeld auf verlorenem Posten.“
Der Ohrwurm ist wichtiger als die Produktion
Doch nicht nur die Länge der Songs ändert sich. Musikexperte Marcus S. Kleiner bemerkt, dass sich auch die Produktion der Songs verändert. „Früher musste Musik perfekt klingen. Frühere Hip-Hop-Tracks von etwa Dr. Dre oder Kanye West waren in Perfektion ausproduziert. Das ist heute gar nicht mehr so wichtig, weil Musik statt auf Wohnzimmeranlagen auf Smartphones gehört wird.“
Mit den digitalen Plattformen gehe zudem viel Kompression einher. Das bedeutet: Auf der Plattform Tiktok ist beispielsweise niemals die Originalqualität eines Songs zu hören – schließlich soll die App ja wenig Daten verbrauchen und die Clips auch schnell laden. Zudem wird die Lautstärke der einzelnen Clips angeglichen, das wirkt sich ebenfalls negativ auf die Qualität der Songs aus. Auch bei Spotify werden Songs komprimiert wiedergegeben, wenn auch nicht in dieser extremen Form.
Viel wichtiger ist laut Kleiner demnach, dass ein Song heute „catchy“ ist – also für den Konsumenten oder die Konsumentin schnell einprägsam. „Ob er gut produziert ist, spielt heute, vor allem in den digitalen Plattformen, nicht immer eine entscheidende Rolle. Man muss aber auch sagen: Typische Tiktok-Musik ist für die Gegenwart gemacht, und sie verbrennt auch in der Gegenwart. Viele dieser Songs werden in ein paar Jahren vermutlich vergessen sein.“
Die Technik hat schon immer die Musik bestimmt
Dass Techniktrends die Musikproduktion bestimmen, ist allerdings gar nicht so neu wie es vielleicht scheint. Mit dem Aufkommen des Radios etwa wurde in Popsongs der sogenannte „Fade-Out“ populär – ein Stilelement, das heute kaum noch in Musik zu hören ist. Gemeint ist damit das langsame Leiserwerden eines Songs an seinem Ende. Und Marcus S. Kleiner kennt noch ein anderes Beispiel: „Als Mitte der 2000er Jahre die Klingeltöne populär wurden, wurden Songs nicht mehr fürs Radio produziert, sondern so, dass sie auch als Klingelton funktioniert haben.“
Laut „Dr. Pop“ Markus Henrik gab es vor rund 100 Jahren sogar schon mal einen Trend zu sehr kurzer Musik. „Auf Schellackplatten hat teilweise nicht mehr als zweieinhalb bis drei Minuten drauf gepasst. Das war das Limit der Speicherkapazität. Dann wurde es mit der Zeit mehr. Das Medium hat immer einen Einfluss auf den Inhalt.“
Kein Grund für Kulturpessimismus
Doch ist die neue Entwicklung nun gut oder schlecht? „Jede Bewegung hat ihre Gegenbewegung“, sagt Markus Henrik. „Einerseits scheint gerade alles schneller und kürzer zu werden, andererseits sind Menschen bereit, sich Podcasts anzuhören, die zwei Stunden und länger gehen. Auch in der Musik gibt es Künstlerinnen und Künstler, die sich dem Verknappungstrend widersetzen und erfolgreich, tiefgehende Popmusik machen, die sich über mehrere Minuten erstreckt. Sophia Kennedy oder Christine and the Queens zum Beispiel. Es muss innerhalb der Musikindustrie aber alles dafür getan werden, dass diese Musik fair vergütet wird. Die Menge der Klicks darf nicht das einzige Kriterium sein.“
Gegenbewegungen bemerkt Henrik sogar auf modernen Plattformen wie Tiktok. „Selbst dort gibt es Hashtags wie ,ABBA‘, unter dem sehr junge Menschen tolle, moderne Coverversionen abliefern.“
Auch Markus S. Kleiner will die Entwicklung nicht pauschal als negativ bewerten: „Problematisch ist es aber dann, wenn Musik nur noch so produziert wird, dass sie größtmöglichen Erfolg auf den digitalen Plattformen erzielt. Das verändert die Musik sicherlich zum Negativen. Für mich persönlich ist ein guter Popsong jedenfalls nicht schon nach anderthalb Minuten zu Ende.“