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Neues Album der Thrash-Metal-Legende

Metallica und die reinigende Kraft des Unglücks

James Hetfield, hier bei einem Konzert Anfang November in Hollywood, Florida, kommt mit Metallica 2023 nach Hamburg.

Die Wunden der Kindheit: Metallicas James Hetfield besingt auf dem neuen Studioalbum „72 Seasons“ die Düsternisse der ersten 18 Lebensjahre. Der Sound ist Metallica at its best.

„72 Seasons“ – also 18 mal Frühling, Sommer, Herbst und Winter – sind wir bestenfalls in der Obhut, schlechtestenfalls in der Gewalt unserer Eltern. Wir werden je nach Familie geformt und/oder gebogen, gehypt und/oder gedemütigt, abgelehnt und/oder geliebt, bis wir dann frei sind – und doch in der Gefangenschaft dieser Erfahrungen. Davon handelt das neue Album von Metallica, das am Freitag, 14. April, erscheint. Der Blick von ungefähr 60-jährigen Rockmusikern fällt auf die juvenilen Jahre, die Jahre der Prägung und wie sie in der Folge die eigene Sicht auf die Welt beeinflussen.

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Die 72 Jahreszeiten fielen im Falle von James Hetfield nicht sonderlich behütet aus, jedenfalls wenn man den Lyrics auf dem elften Album der kalifornischen Metalband glauben mag. Jugend ist grausam. Großwerden lebensgefährlich, das ist die Losung hier. Aber Hetfields harte 72 machten am Ende eben auch den Thrash Metal möglich, jenen ungestümen Sturm-, Drang- und Zorn-Hardrock, mit dem die Band ab den frühen Achtzigerjahren mit Kirk Hammetts Pfeilhagel von Gitarrentönen und Lars Ulrichs irrwitzig rollenden Doppelbasstrommeln dem „Smoke on the Water“- und „Rock You Like A Hurricane“-Headbanger zeigten, wo der Rock‘n‘Roll-Bartel neuerdings den Most holt.

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Es ist ein „Ich muss raus aus diesem Kopf“-Rock im Song „72 Seasons“ – aggro, bullig, mächtig, oft ein preschendes Vorwärts. Von der Zeit, die von der Vergangenheit heimgesucht wird – gemeint ist wohl potenziell die gesamte Lebenszeit –, singt Hetfield im Titelsong, vom „psychotischen Blick zurück“, von Gewalt, Vererbung, der Weitergabe des Falschen an die nächste Generation. „Irre Jahreszeiten fordern ihren Tribut“ heißt es da und beinahe acht Minuten dauert das Stakkato der Klage um die Gefahr, das eigene Leben zu verlieren, indem man Kindheitserfahrungen nachstellt: „Auf das Ausatmen“, so Hetfield, „folgt kein Wiedereinatmen.“ Der rasende Song wird von Hammetts Gitarre dominiert, die schnarrt, knattert, flirrt, und zu verzerrtem Wah-Wah wechselt – kongenial zum Text. Kein Metalohrwurm auf den ersten Horch. Aber beste Katharsis. Und genauso ist der Song gemeint.

Schon Fritz Rau wusste um die kathartische Kraft dunkler Musik

Die Metallica-Maniacs werden das neue Album noch mehr umarmen als den Vorgänger „Hardwired…to Self-Destruct“ von 2016, mit dem Greg Fidelman erstmals produzierte und mit dem Metallica begannen, auf dem eigenen Label Blackened zu veröffentlichen. Die Therapie in dem Dutzend Songs ist auch kein reiner Selbstzweck. Sie springt über, man fliegt förmlich durch dieses Dutzend Soundgewitter – durch das bluesig-stampfende „You Must Burn“, das pumpende „Chasing Light“ oder das punkige „Too Far Gone?“ – und man lädt sich auf.

Wie schon der große deutsche Blues-, Folk- und Rock-Impresario Fritz Rau wusste, gelingt es oft gerade düsterer, schwerblütiger Musik, den Hörer aus den persönlichen Tiefs zu reißen. Auch Kirk Hammett mutmaßt in Interviews zum Release, dass das Album „72 Seasons“ die Kraft hat, den durch Krisen, wirtschaftliche Schieflage, Klimawandel und den Ukrainekrieg zerrissenen Metalhead wieder zusammenzusetzen. Ein Album über Ängste als Ventil, mit dem man Angst ablassen kann.

Die Mainstreamer, die sich Ende der Achtzigerjahre zu Metallicas Hardcorern gesellt hatten, werden wie immer seit dem ungeliebten „St. Anger“ (2003) eine Weile brauchen, bis sie mit den durchaus nicht unmelodischen Nummern dieses 80-Minuten-Packs zurechtkommen. Sie sprangen auf den Zug auf, als Metallica mit „One“ (1989) zeigten, dass sie auch episch konnten und vor allem, als das schwarze Album (1991) mit „Enter Sandman“ und vor allem „Nothing Else Matters“ Moll-farbene Classic-Rock-Songs für alle Jahreszeiten abwarf.

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Und sie blieben, als Metallica sich von einem sinfonischen Orchester begleiten ließen oder den durch Thin Lizzy einst dem Rock einverleibten Irish-Folk-Klassiker „Whisky In The Jar“ coverten. Und dann blieben sie einfach bis heute. Wahrscheinlich hätte es ihnen besser gefallen, die Kalifornier hätten ein „Black II“ gewagt oder ein weiteres Coveralbum – vielleicht mit dem „Irish (Metal) Rover“.

Keine Atempause. Nirgends? „Full speed or nothing“, bellt Hetfield in „Lux Aeterna“. Ein richtiger Innehalter ist über die vollen 80 Minuten dieses Kraftpakets tatsächlich nicht auszumachen, weshalb man ein paar Durchgänge braucht, um Differenziertheit im Donner auszumachen, Mitgrölhits zu finden („Screaming Suicide“, „Lux Aeterna“), Experimentelles zu bewundern („Room of Mirrors“). „If Darkness Had A Son“ wird zum Metalklassiker avancieren, kein Zweifel.

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Am Ende von „72 Seasons“ steht auch Heldenverehrung

Der überwältigende Elfminüter „Inamorata“ immerhin, Metallicas bislang längster Song, mit dem „72 Seasons“ schließt und der den Fan mit Melancholie umarmt („Misery, she needs me / Oh, but I need her more“), verbreitet im zweiten Drittel luftige Doors-Vibes und gleich danach schnörkelt die Gitarre von Kirk Hammett herrlich queenesk.

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Das ist der Trost: Auch wenn die Jugend laut Metallicas Neuer ein Kreuz ist, an dem man schwer trägt, und auch wenn man lange an den – etwa durch lieblose Familien, mobbende Mitschüler oder sadistische Lehrer – erlittenen Beschädigungen zu leiden hat, so hatten diese 72 Jahreszeiten für alle Kinder aller Rock‘n‘Roll-Zeiten immer auch Sängerinnen, Sänger, Bands parat, die ihnen den Weg zur Selbstbefreiung ausleuchteten. Metallica sind groß geworden, nicht zerbrochen, sind – das äußerte Kirk Hammett schon vor sechseinhalb Jahren im RND-Interview – „ein angenehmer Ort“, haben die Balance zwischen Leben und Musik gefunden. Und so ehren sie die Helden, die ihnen auf ihrem Weg geholfen haben, in ihren Songs.

Metallica – „72 Seasons“ (Blackened), erscheint am 14. April

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