Neue Alben von Elbow, Dave Gahan, Kunze und Bruce Springsteen
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Magie aus Manchester: Die britische Rockband Elbow (undatierte Aufnahme). Das neue Album "Flying Dream 1" hat eine jazzige Note.
© Quelle: Peter Neill/Polydor/Universal Mu
Braucht es eigentlich zweite Originalversionen verdienter Pop- und Rocksongs? Heinz Rudolf Kunze, eine der großen Stimmen dieses Landes (in zweierlei Hinsicht), meint ja. Und seine Neuversion von „Vertriebener“ klingt dann auch deutlich anders als etwa die soundmäßig aufgebrezelte Neuversion von „Rock You Like A Hurricane“ der Scorpions. Braucht es alte Konzerte? Bruce Springsteens 1979er-Auftritt beim „No Nukes“-Festival weckt jedenfalls auch bei verwurzelten Sofakartoffeln die Lust auf eine Runde live. Und wie klingen Deep Purple, wenn sie einen alten Countrysong von Johnny Horton covern? Wie der „Highway Star“, der auf Geburtstagskind Lucky Lukes (75 geworden) Schimmel Jolly Jumper einherreitet, könnte man sagen.
Kunze erzählt seinen „Werdegang“ in alten Songs
Dass der von den Musen wohl meist geliebte Lieder- und Popmacher deutscher Zunge sich bei einer neuen Studioarbeit mit zurückliegendem Liedgut aus eigener Feder befasst, statt ein Dutzend seiner alljährlichen sprachschönen Hundertschaften von Lyrics in neue Songs zu verwandeln, ist schon verwunderlich. Das Doppelalbum „Werdegang“ enthält 24 Klassiker von Heinz Rudolf Kunze – es besteht quasi aus einer Scheibe „Greatest Hits“ und einer Scheibe „Best of“ in Neueinspielungen. 1000 Fans hatten bei der Playlist Mitbestimmungsrecht und natürlich ist „Dein ist mein ganzes Herz“ drauf. Aber der temporeduzierte Song trägt jetzt ein Kleidchen aus musikalischem Perlon, wie auch das Update „Vertriebener“ klingt, als wär‘s aus dem Oeuvre der Synthpopper A Flock of Seagulls entsprungen. Sogar die Coverversion des Kinks-„Lola“ gibt‘s als flotte Elektroturbulenz mit silbrigen Keyboards (wer – Hand aufs Herz – hat Alfred Dreger gegoogelt?). Aber keine Sorge, das verlässliche Rock‘n‘Roll-Kraftwerk Kunze gibt die Gitarre nicht verloren – die akustische wie die elektrische – etwa in „Wenn du nicht wiederkommst“, dem er dafür sogar harmonische Veränderungen verabreicht.
Dem allgemeinen Trend zur ziemlich überflüssigen Zweitoriginalversion schließt sich Kunze nicht an. Er macht was draus, verändert, verwandelt – liefert ein perkussives „Finderlohn“ mit klingelnder The-Edge-Gitarre. Zeitlos ist das alles und zur Zeit passend: In „Aller Herren Länder“ und „Mit welchem Recht“ zieht er gegen Fremdenhass zu Felde. Und „Die Dunkelheit hat nicht das letzte Wort“, dessen Harmonium den Song wie ein Kirchenlied erscheinen lässt, kommt einem vor wie ein Mahngesang an das pandemiezerschlissene Volk der Nicht-mehr-ganz-Dichten und „Querdenker“: „Wir brauchen Rettungsgassen, / wir müssen Hand in Hand der teuflischen Versuchung widerstehen / zu herrschen und zu hassen /uns hilft nur mehr Verstand / um ohne Tunnelblick das Licht zu sehen.“ Mehr Solidarität!
Heinz Rudolf Kunze – „Werdegang“ (Meadow Lake Music / Rough Trade)
Bruce Springsteens enthusiastische Feier des Rock’n’Roll
Wenn man seine Sehnsucht nach „live“ ins Unermessliche steigern möchte, dann nehme man „The Legendary 1979 No Nukes Concerts“ von Bruce Springsteen und seiner E-Street-Band in Besitz. Bislang war vom Auftritt der Boss-Band bei den Konzerten für eine nuklearfreie Zukunft im Madison Square Garden nur das Zodiacs-Cover „Stay“ (als Duett mit Jackson Browne) und das „Detroit Medley“ – ein Mix aus 50er-Jahre-Rock-‘n‘-Roll-Songs enthalten. Jetzt gibt es die komplette Setlist auf Doppeldisc plus DVD/BluRay. Eine enthusiastische Feier des Rock ‘n‘ Roll vom selbstvergewissernden Auftakt mit „Prove It All Night“ bis zum Rausschmeißer „Rave On“, einem der mitreißendsten Stücke aus der Feder von Buddy Holly.
„Rosalita“, „Born to Run“, „Thunder Road“, „Jungleland“, „Badlands“ und „The Promised Land“ – Springsteen versteht sich darauf, relevante Lyrics über den Einzelnen im desolaten Amerika mit Party zu vermischen, was er vor allem mit einer sechsminütigen Version von „Sherry Darling“ beweist, das zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht veröffentlicht war. Gleiches gilt für das ergreifende „The River“, das in der frühen Fassung noch desillusionierter schien – singt Springsteen auf der späteren offiziellen Studioversion davon, dass es „kaum Arbeit“ gebe in Amerika, ist hier noch von „no work“ die Rede. Ohne diese Platte, die vor allem ein Fest des Saxofons ist und auf der dem „big man“ Clarence Clemons nie die Puste auszugehen scheint, ist keine Springsteen-Sammlung komplett.
Bruce Springsteen & The E-Street Band – „The Legendary 1979 No Nukes Concerts“ (Columbia/Legacy)
Billy Bragg und der traurige Konjunktiv „hätte“
Ein Soulman ist Billy Bragg gewiss nicht, dazu ist seine Stimme einfach nicht emotional genug. Dennoch ist der Auftakt seines Albums, „Should Have Seen it Coming“, unzweifelhaft eine Soulballade. Der kämpferische Brite eröffnet sein Album „The Million Things That Never Happened“ mit einem Lied darüber, warum viele mutige Dinge ungetan bleiben und warum die guten Gesellschaften und der heile Planet parallel zum Opfer von Despoten und Leugnern wurden. Weil alle weggeschaut haben, wo sie es hätten kommen sehen können. Das folgende „Mid-Century Modern“, vom Sound her zwischen Country und E-Street-Rock, geht ums Sich-Wohlfühlen in lieb gewonnenen Positionen, während eine junge Generation mit neuen Ideen für eine bessere Welt herausfordert. Es geht um falschen Stolz, verlorene Liebe. „Ich bin an Leute gewohnt, die zuhören, was ich zu sagen habe / und ich finde es schwer zu verstehen, dass es helfen könnte, wenn ich zur Seite träte.“
Ein Suchender ist Bragg immer noch, das zeigt sich in Texten wie dem der Pianoballade „Lonesome Ocean“. Kontemplativer als in diesem Liederbuch, dessen Schönheit und Vielfältigkeit sich nach mehrfachem Hören entfaltet, war er indes nie, auch nicht zweifelnder, persönlicher. Politisch ist er indes immer noch, und es finden sich Spuren des Vorbilds Dylan – das dezent psychedelische „Good Days And Bad Days“ erinnert an die Melodie von „The Times They Are A-Changing“.
Und im hillbillyhaften „Freedom Doesn‘t Come for Free“ erzählt er von Libertären, deren Versuch, in New Hampshire ein Utopia aufzubauen, krachend scheitert. Man hätte sich nach all den Katastrophen mit den Trumps der Welt, den politischen Unfähigkeiten in Sachen Klima, den menschlichen und politischen in Sachen Corona, anderes erhofft für Braggs erstes Werk seit 2013. Und dennoch drückt man am Ende von den „Millionen ungeschehenen Dinge“ sofort auf „repeat“.
Billy Bragg – „The Million Things That Never Happened“ (Cooking Vinyl)
Ein anrührendes Dreifachalbum aus Liebe zu Neal Casal
Mit einem Bariton, dessen wohlige Schwingungen an Roy Orbison erinnern, singt Aaron Lee Tasjan den ersten Song – über das Reisen nach Einbruch der Dunkelheit, wo man nur von den Sternen geleitet wird. Die Schönheit des Traurigen hat kaum je einer so weidlich ausgelotet wie Neal Casal, der Songwriter aus Denville, New Jersey, der zwei Jahre nach seinem Tod immer noch zu den entdeckenswerten Stimmen Amerikas gehört. „Traveling After Dark“ leitet die Dreierdisc „Highway Butterfly“ ein, auf der sich Interpreten und Bands aus Folk, Country und Indierock den Liedern von Casals widmen. Nach zehn Soloalben hatte er sich ab 2011 in Bands wie Ryan Adams and The Cardinals, den Hard Working Americans und den Beachwood Sparks verborgen. Was ihn umso mehr zum Thema für Insider machte.
Die Liste der Beteiligten ist ein Who is Who der zweiten Garde – was hier keineswegs als Qualitätsurteil gemeint ist. Jeder an dieser Hommage Teilnehmende scheint eine geradezu zärtliche Zuneigung zu Casal und seinen sehnsuchtsvollen Liedern zu hegen. Und das manifestiert sich in durchweg wunderschönen Coverversionen – wie Britton Buchanans deftigem, Tom-Petty-artigen „Willow Jane“, dem souligen Southern Rock der Allmann Betts Band in „Raining Straight Down“ oder Jason Crosbys instrumentaler Pianoversion von „Pray Me Home“. Die vertrautesten Namen hier sind J Mascis, die Grateful-Dead-Mitglieder Phil Lesh und Bob Weir, Steve Earle, Jonathan Wilson, Hiss Golden Messenger und Marcus King, der seine Gitarre bei „No One Above You“ weidlich weinen lässt. 18 Aufnahmen waren geplant, 41 sind es geworden, immer mehr wollten Tribut zollen. Am Ende hört man Interviewausschnitte von Casal selbst, der zu Beginn von Robbi Robbs „I Will Weep No More“ erzählt, wie er vom Gitarristen zum Sänger und schließlich zum Songwriter wurde. Dass er (freiwillig) aus dem Leben schied, ist ein großer Verlust.
Diverse – „Highway Butterfly – The Songs of Neal Casal“ (NCMF/RPF/MRI)
Deep Purple covern, was das Zeug hält – sogar Country
Es ist ja nicht so, dass die Rockheroen Deep Purple nie Coverversionen aufgenommen hätten. In ihrer Frühzeit machten sie aus dem Beatles-Song „Help“ eine schwerblütige Ballade, ihre ersten Singles „Hush“ und „Kentucky Woman“ stammten aus den Federn von Joe South respektive Neil Diamond. Ab „Speed King“ und der Etablierung des Hardrocks vertrauten sie dann aber weitgehend auf die eigenen Künste. Jetzt baden sie wieder – und das gleich auf Albumlänge – in fremder Musik: „7 And 7 is“ startet das Lockdown-Coverwerk „Turning to Crime“ – und Loves in Vergessenheit geratene zweite Single von 1966 passt erst mal gar nicht schlecht ins Purple-Portfolio.
Gleiches gilt für „Shapes of Things“ von den Yardbirds, „Oh Well“ von Fleetwood Mac oder „White Room“ von Cream. Aber die Band will mehr Spaß, als es ein Rücksturz in ihre bluesrockig-psychedelischen Anfänge zuließe. So rocken und rollen Purple zu Mitch Ryders bluesigem „Jenny Take A Ride“, und mit Johnny Hortons Countryfolk „Battle of New Orleans“ sind sie dann wirklich Lichtjahre weg von ihren musikalischen Gestaden und wirken beim „Mississip‘-Trip mit Colonel Jackson“ so frohgemut wie fremd. Auch der bläsergetriebene Bluesswing von B. B. Kings „Let The Good Times Roll“ lässt die Band nur noch an Ian Gillans Stimme und dem bemerkenswerten Orgelsolo von Don Airey erkennen.
In Huey „Piano“ Smiths „Rockin‘ Pneumonia and The Boogie Woogie Flu“ von 1957 bauen sie dann zur Sicherheit, bevor man nicht mehr weiß, was da gerade im CD-Player oder auf dem Vinyldeck rotiert, als Wiedererkennungsmerkmal Ritchie Blackmores legendären Gitarrenriff von „Smoke on The Water“ ein. Und zwar auf dem Klavier! Man kann sie dabei grinsen sehen.
Deep Purple – „Turning to Crime“ (earMusic) – ab 26. November
Michael Patrick Kelly mit einem Glücklichmacheralbum
Zwischen die Buchstaben von „B.O.A.T.S.“ setzt Michael Patrick Kelly Punkte, die Überschrift für seine 16 Songs steht für „Based on A True Story“. Wahre Geschichten mit persönlichem Bezug hat der irisch-amerikanische Songwriter mit Deutschland-Basis auf seinem fünften Soloalbum versammelt. Der Titelsong, der schon mal klingt wie eine großartige Bee-Gees-Ballade, changiert zwischen folkiger Kargheit und großem Wumms und erzählt von den Masken und Lügen, hinter denen sich Menschen verschanzen, dass ihre Wahrheiten über sich selbst mit allerhand Schmu und Getue aufgeplustert werden.
Im folgenden „Diamonds & Metals“, dem rockigsten Song des Albums, der die Welt neuer Grenzzäune zwischen Ländern und quer durch die Völker und Familien als den falschen Menschheitsweg brandmarkt, erinnert Kelly im Sound an die Manic Street Preachers, im Gesang auch an deren Frontman James Dean Bradfield. „Blurry Eyes“ wäre einer für Ed Sheeran. Immer wieder wechselt das frühere Mitglied der Kelly Family im Folgenden die Musikstile und Beats, findet abwechslungsreiche Arrangements, ohrschmeichelnde Melodien und er hat – mit ziemlich mächtiger Stimme – auch durchaus was zu sagen. „B.O.A.T.S“ ist einer jener 100-Prozent-Pop-Glücklichmacher für die Massen, wie sie Sheeran, James Blunt oder Robbie Williams liefern, vielleicht mit ein paar Autotunes-Effekten zu viel. Aber praktisch jeder Song ist ein Hit to be. Gibt‘s ja nicht so oft.
Michael Patrick Kelly – „B.O.A.T.S.“ (Sony)
Philip Bradatsch ist der neue „Schattenkapitän“ des Deutschrocks
„Straßenkehrmaschine / ewig missverstanden / der Himmel brennt / hinter den alten Girlanden im Café / schaut die Kellnerin dich an wie den ersten Schnee / ich schau ihr hinterher / als ob nichts wär.“ Man wüsste gern, was Philip Bradatsch zu diesen poetischen Wehmutszeilen gebracht hat. Der schleppende Rock‘n‘Roll des Songs „Abgehängt“, in dem sich Mellotron und Who-Dramatik finden, dauert knapp sieben abwechslungsreiche Minuten und man ist fasziniert von diesem larmoyanten Mann, der in interessanten dylanesken Verrätselungen der Liebe hinterhersingt. Nur Klavier bei „Wohin du gehst“: „Das Leben gähnt einen an …“ Oh ja, das tut es manchmal. Auf dieser Platte aber nicht. Die ist so aufgeweckt und spannend wie eine von Udo Lindenberg aus den Mittsiebzigern. Im Titelsong versteckt sich „Satisfaction“ von den Stones. Fast ein Hit: Das 50er-Jahre-Schubidu über den „Schattenkapitän“.
„Die Bar zur guten Hoffnung“ ist das zweite deutschsprachige Album des Songwriters aus München, dessen Stimme mal Neil-Young-artig schlingert, dann selbstbewusst strahlt. Aufgenommen im vorigen Pandemiewinter strotzt es vor Lust am Musikmachen, dem Willen, den Hörer und die Hörerin mit Plötzlichem zu überraschen, mit hereinplatzenden Gitarrensoli, abrupten Songstopps, dem Einmaleins der Spannungserzeugung. „Nichts ist mehr von Bedeutung / hörst du nicht die Sirenen näherkommen?“, stellt Bradatsch in der funkigen Ballade „Winter“ fest. „Schatten überm Land / und nur bei dir brennt noch ein Licht“, sieht er dann Hoffnung in der Zweisamkeit.
Philip Bradatsch & die Cola Rum Boys – „Die Bar zur guten Hoffnung“ (Trikont)
Wolfgang Müller hat das Ende des Regenbogens gefunden
„Wie wird man unsichtbar, wie lernt man zu verschwinden?“, fragt Wolfgang Müller in „Verschwinden“. Das tut er sprechsingend zu einem jazzigen Klavier, und man vermutet, er, der publikumsscheue Lampenfieberer, würde das vielleicht wirklich gerne mal lernen. Er hoffe auf ein Leben ohne Selbstbeteiligung heißt es ähnlich, nur humorvoller, in „Zu Rosa“. Dass er nichts beiläufig oder täuschend sage, versichert Müller dann in „See mitten im Wald“, einem verwunschenen Lied über Liebe und Liebeskrise, dessen Gitarren und Klaviertöne kreiseln und funkeln wie Sonne auf Wasser. Trotzdem hoffen wir auf Müllers Verbleib. Kaum einer kann das Deutsche-Lieder-Machen so leise und intensiv wie er.
„Wir sind im selben Orkan aber nicht im selben Boot“, singt Müller und findet doch tatsächlich das Regenbogenende auf einer gemeinsamen Heimfahrt in der Sächsischen Schweiz. Das Gold lassen die beiden Protagonisten liegen, das Glück wird in den Topf gestopft. Wann hat man in den letzten Jahren ein zugleich so kluges und optimistisches Liebeslied gehört wie „Sag Ja“? Radio spiel‘s! Lass die Hörer sich wieder mal einen Kopf machen. P. S.: Mit den Zeilen „Dein ist mein ganzes Herz“ und „Kunze hatte recht“ verweist Müller auf den nur ein Jahr älteren, eingangs erwähnten, gleichsam sprachfrohen Dichterkollegen Heinz Rudolf.
Wolfgang Müller – „Die Nacht ist vorbei“ (Themroc)
Dave Gahan singt Dylan, Chaplin und Nina Simone
Die Soulsavers sind ein wichtiger Teil für Dave Gahans Balance. Wie der Titel des Albums „Imposter“ nahelegt, litt er bei Depeche Mode lange unter dem Gefühl, ein Blender zu sein, „nur“ der Sänger von Martin Gores Liedern, kein Genius in eigenem Recht. Dieser Minderwertigkeitskomplex besteht nach zwei Soloalben und zwei Soulsaveralben offenkundig nicht mehr – denn Gahan covert diesmal.
Anders als bei DM klingt der Bariton von Gahan, wenn er mit Ian Glover, Rich Machin und einer erklecklichen Begleitmusikerschar gemeinsame Sache macht, weniger streng und affirmativ als bei Depeche Mode, viel sanfter, weicher, gefühliger. Und so bewahren die Soulsavers gleich zum Auftakt wahrhaft den Soul und rufen die Schönheit von James Carrs zu Unrecht vergessener Ballade „The Dark End of The Street“ von 1967 in Erinnerung. Gänsehaut – und das nicht zum letzten Mal.
Von Mark Lanegan, der auch schon bei den Soulsavers sang, holt Gahan sich „Strange Religion“, von Charlie Chaplin „Smile“, von Nina Simone „Lilac Wine“ – traurige Lieder über Sehnsucht, Verzweiflung und Betäubung, alle sorgfältig ausgewählt und – so sagt Gahan es – mit Bezügen zu seinem Leben. Nie sang jemand die Zeile über den Schmerz hinter aller Schönheit in Bob Dylans Moritat „Not Dark Yet“ so tiefempfunden. Und nie klang Gahan so Elvis-haft volltönend wie bei Elmore James‘ „Held My Baby Last Night“. Bluessavers sind sie auch.
Dave Gahan & Soulsavers – „Imposter“ (Columbia)
Elbow und die Kraft der leisen Klänge
Die Stimme von Guy Garvey klingt wie die eines trauernden Grabengels, wenn er zum Titelsong von Elbows neuem Album „Flying Dreams 1″ anhebt. Ein Klavier in Moll, ein wisperndes Jazzschlagzeug dazu. Jemand möchte nach Hause zurück, aber es ist ein Zuhause in der Vergangenheit, der Weg dorthin ist nur im Geiste beschreitbar. So beschwört Garvey Kindheitserinnerungen herauf, fühlt sich beim Verlassen der sicheren Familienbande wie „fallender Schnee“. Einer der schönsten Songs des Jahres auf einem der anrührendsten Alben des Jahres, das leiser und swingender ist als der kraftvolle Vorgänger „Giants of All Sizes“. Ja, Elbow waren mal richtig laut. Aber leise ist das bessere Laut, das, in das man hineinhorcht, in dem der Hörer sich umschaut. Das weiß die Band aus Manchester, die bei „After The Eclipse“ Streicher und brisenhafte Bläser zu Garveys Gesang gesellt.
Und so geht es weiter mit diesem Album, das im Lockdown entstand, das im altehrwürdigen Brighton Theatre Royal eingespielt wurde und das im Ohr des Hörers wächst und wächst. Es ist ein Fest des Flüsterns und Raschelns, der stimmungsvollen Backgroundchöre und der barmenden Leadstimme, die ihre Worte regelrecht zu verkosten scheint. Da ist „Six Words“, dessen Musik wie ein Bach klingt, der im Sonnenlicht mit den moosbewachsenen Steine auf seinem Grund spielt. Mit „Come on, Blue“ wird zu Klavier und Akustikgitarre die Liebe besungen. Und das ist nichts weniger als ein orangeroter Sonnenaufgang in Klang. Hier ist eine Band, die schon manchen Gipfel erreicht hat, die das Erreichte auch zu ehren weiß (indem sie etwa mit dem Song „The Seldom Seen Kid“ an ihr gleichnamiges Grammyalbum von 2008 erinnert), die aber unbeirrt weiter unterwegs ist zu ihrem Everest.
Elbow – „Flying Dream 1″ (Polydor)
Nirvanas „Nevermind“ - Jubiläumsausgabe des Grunge-Überalbums
Kurt Cobain und seine Band Nirvana waren binnen fünf Jahren zum Idol all jener aufgestiegen, die vom Rock ‘n‘ Roll Reibung am Leben verlangten statt getigerter Hosen und breitbeiniger Posen. Im Jahr 1989 waren Nirvana noch zu neunt im Fiat-Bus durch Europa getuckert und hatten etwa nach dem Oldenburg-Konzert bei Fans übernachtet – arme Musikanten eben. 1991 war Grunge, der lärmend-melodische Nirvana-Sound aus Indie, Metal und Punk, das große Ding, „Nevermind“, ihre zweite Platte mit dem Baby, das auf einen Dollarschein zuschwamm, wurde das Rockalbum des Jahres und „Smells Like Teen Spirit“ der grimmige Song zum Superhit.
Cobain hatte Songs wie dunkle Wolken auf dem Album. Mit rauer, gequälter Stimme sang und schrie er zu einem energischen, schrägen Gitarrensound, in den sich immer wieder wie Traumblasen coole Twangs mischten. Dieser Sound wirkt heute noch kathartisch, wo fast die gesamte Popmusik der Charts und Sender nach Teen Spirit und kalten Formeln riecht, und er ließ damals jäh alles andere verblassen. Nur vier Tage vor „Nevermind“ war das Doppelalbum „Use Your Illusion“ von Guns N‘Roses erschienen – aber gegen den Zorn des Grunge, das authentische Leiden am Leben, das Kurt Cobain zelebrierte, gegen den grollenden Punkmetal des coolen Trios aus Seattle wirkten Guns N‘Roses mit ihrer Coverversion von Paul McCartneys „Live & Let Die“ und der Monsterballade „November Rain“ plötzlich nur noch wie Pop.
Zum Jubiläum sind jetzt diverse Geburtstagsvarianten von „Nevermind“ erschienen, von denen das Juwel für Fans die Superdeluxe Edition mit vier frisch gemasterten Liveshows (Amsterdam und Del Mar von 1991, Melbourne und Tokio von 1992) darstellt. Von den 94 enthaltenen Audio- und Videotracks sind 70 unveröffentlicht. Der Vinylmonsterbox ist eine Single mit dem „Nevermind“-Hidden-Track „Endless, Nameless“ und der Single-B-Seite „Even in His Youth“ beigefügt. „Es ist besser auszubrennen als zu verblassen“, hatte der 27-Jährige Cobain eine Songzeile von Neil Young in seinem Abschiedsbrief zitiert. Und wurde postum zur letzten, bis heute zutiefst vermissten Überfigur des Rocks.
Nirvana – „Nevermind – 30th Anniversary Editions“ (Geffen/Universal/Sub Pop)