Andersens Märchen „Die Nachtigall“ wird uraufgeführt
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Brian Völkner und Lisa Ströckens in „Die Nachtigall“.
© Quelle: Rolf Arnold
Leipzig. Nebelschwaden, dutzende stimmungsvolle Laternchen, und die Nachtigall (Lisa Ströckens) am Trapez fliegt brillant trällernd und vor allem hoch über der Bühne durch die Luft und Obstblüte. Großer Theaterzauber, kindgerecht. Am Schauspiel Leipzig hieß so etwas früher Weihnachtsmärchen.
Ein Begriff, der nicht ganz zu halten ist, wenn der Premierentermin wie in diesem Jahr auf den 14. Oktober wandert. Aber konzeptuell bleibt es auch bei der Uraufführung von Hans Christian Andersens „Die Nachtigall“ beim Bewährten. Regisseur Stephan Beer zeigt eine liebevolle, klar auf die Kerngeschichte konzentrierte Story für die ganze Familie mit vielen Gesangseinlagen und effektvoller Bebilderung.
Der Fischer Lin Hu (Brian Völkner) gleitet gemächlich im Stocherkahn über den See durch den Morgennebel. Die Pflaumenblüte leuchtet unwirklich rubinrot von übergroßen Ästen. Und im Hintergrund, über dem Podest der kleinen Kapelle, finden sich in angedeuteter Tuschetechnik weitläufige Bergwelten an die Rückwand gezeichnet.
Georg Burger taucht die Bühne so zunächst in ein ländliches Idyll, das im weiteren Verlauf der Inszenierung immer wieder wechseln wird mit dem Palast des Kaisers und dessen unter einem Pagodendach aufgestellten, von Drachenköpfen bewachten Thron, ergänzt von chinesischer, die Bühnenhöhe ausschöpfender Kalligraphie. Zusammen mit dem Quartett aus Klavier, Streichern und Schlagezeug entsteht tatsächlich eine ansprechende, nach China entführende Atmosphäre. Die Bebilderung bewegt sich mitunter am Rande des Kitsches, aber Familientheater (für Kinder ab 6), das heile Welten heraufbeschwören möchte, darf das.
Jan S. Bayer und Jörg Wockenfuß, zusammen mit Stefanie Bühler und Anne-Sarah Schmidt an den Instrumenten, haben wieder die Lieder geschrieben. Ohrwürmer, wie in den vergangenen Märchen-Inszenierungen mitunter geglückt, bleiben zwar nicht im Gedächtnis. Dafür – passend zur Rolle der Nachtigall – kommt mit Lisa Ströckens eine neue Gesangsqualität ins Spiel.
Andreas Herrmann gibt mit dick ausgepolstertem Bauch den Kaiser von China, Goldfäden baumeln ihm vom Krönchen ins Gesicht. Und nach historischem Selbstverständnis betrachtet er sich als Mittelpunkt der Welt, der erstens bezweifelt, dass ein Vogel durch die Wälder fliegt, der so wunderbar zu singen weiß, „schöner als der Gesangseunuch, den der Tenno mir schenkte“. Und der zweitens fordert, den Vogel zu fangen, dass er im Palast für ihn singt. Dort freilich, im goldenen Käfig vor dem Kaiser, ist dem traurigen Tier keine Note zu entlocken.
Beer und Burger, als Autoren-Duo und Team für Regie und Bühne auch bereits für die „Zauberland“-Reihe von Alexander Wolkow am Schauspiel zwischen 2015 und 2017 zuständig, haben das Andersen-Märchen gemeinsam für die Bühne bearbeitet und die Freiheits-Botschaft des parabelhaften Stoffes deutlich herausgearbeitet. Verkörpert nicht nur von Gastsängerin Ströckens, deren klarer Sopran in der Käfigszene zur gezupften Geige ins Schwermütige fällt. Die ganze Inszenierung arbeitet mit symbolischen Gegenpolen.
Der arme, aber freie Fischer in der Schönheit der Natur, der für die Freiheit der Nachtigall kämpft, setzt den Kontrapunkt zum erhabenen Kaiser, der sich den Zwängen der Herrschaft und Tradition aussetzt, der die Ordnung des Staatswesens als Harmonie verteidigt, und dabei die Harmonie der Natur verkennt. Marie Rathschek geht über die Brücke zwischen den Extremen. Als entschlossene Prinzessin lässt sie die Nachtigall frei und entscheidet sich für die Flucht aus den Zwängen des Palasts hin zu Lin Hu.
Zu heimlichen Hauptakteuren in diesem Spiel schwingen sich die Minister Yin (Susanne Krassa) und Yang (Florian Steffens) auf, ergebene Diener des Kaisers, Erzieher und Wächter der Prinzessin und vor allem schön trottelige Konkurrenten um die Gunst des Herrschers. Das trifft Kinderhumor, wenn sie in Slapstick-Manier gegen Türen rennen oder sich im Rahmen ritueller Bewegungen hoffnungslos ineinander verhaken und trotz bizarrer Verrenkungen nicht mehr voneinander loskommen. Eine Szene, die bildhaft zeigt, dass die Harmonie, die der Kaiser-Apparat behauptet, reine Illusion ist.
Im Märchen darf am Ende dennoch das Gute siegen. Der Fischer, zuvor als Verteidiger der Nachtigall mit einem Messer der Minister im Rücken zugrunde gegangen, erwacht beim Gesang der befreiten Nachtigall in den Armen der Prinzessin zum Leben.
Ein Happy End, ohne dass es zuvor allzu süßlich darauf zusteuert. Schwarzhumorig etwa machen die Minister den verendeten Kaiser zu ihrer Marionette, nicht nur im übertragenen Sinne, auch ganz direkt, indem sie ihn mit den Händen geführt mechanisch nicken lassen auf ihre Fragen. Aber Theaterblut fließt nicht, insgesamt verzichtet die auf das junge Publikum gut abgestimmte Inszenierung auf Schreckmomente oder visuelle Überrumpelung und steuert als rund 70 minütiges Plädoyer für die Freiheit zielstrebig durcherzählt auf sein Finale zu.
Die Nachtigall, kommende Vorstellungen: 4. und 18. Nov., 15 Uhr; 26., 27., 29. Nov., 10 Uhr; Schauspiel, Karten: 0341 1268168
Von Dimo Rieß
LVZ