Ganz schön groß geworden: das Lindenow feiert zehnten Geburtstag
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/PQ4CM4W6HQ2XFX26Y23GH543KA.jpg)
Anna Schimkat vor den Bildern Sebastian Nebes, zu sehen im Kaufhaus Held bei Lindenow.
© Quelle: André Kempner
Leipzig. „Geld“, „Kunst“, „Künstlerin“ oder auch „Inspiration“ steht auf den grauen T-Shirts, die Jula Baltschun mit Helferinnen an der Decke des Raumes aufhängt. Auf Fotos ist zu sehen, wie Personen diese Kleidungsstücke tragen und miteinander diskutieren. „Das ist ein Rollenspiel. Die Teilnehmer müssen sich in den Begriff hineinversetzen“, erklärt sie. „Das hat etwas von surrealem Theater, wenn solche abstrakten Begriffe miteinander sprechen.“ Das Bemerkenswerte sei aber gewesen, dass vor allem das Geld sich ausgegrenzt gefühlt habe, von niemandem verstanden.
Im realen Leben sieht das etwas anders aus, auch in Lindenau, das seinen proletarischen Charakter nach und nach abstreift. Doch nicht deshalb ist die Jubiläumsausstellung „Destillate“ in den Untergrund gegangen. Man betritt sie über das ehemalige Kaufhaus Held, muss sich dann aber über einen Tunnel in die Räume jenseits der Merseburger Straße begeben, die zuletzt von Discountern genutzt wurden.
Der Titel ist treffend. Für das Zehnjährige wurden alle Leute angeschrieben, die sich je am Lindenow beteiligten. Es kamen rund 80 Rückmeldungen. Die externen Kuratoren Jan Apitz, Julian Rauter und Patricia Thomas haben daraus einen Extrakt von 40 Namen eingedampft. Übergreifendes Thema ist die Auseinandersetzung mit Urbanität im Wandel. Neben Grafik und Malerei, unter anderem vom heute international erfolgreichen Sebastian Nebe, gibt es Installationen, Videokunst und auch Sachen, die man zunächst gar nicht für Exponate hält.
Für Anna Schimkat ist es das letzte Lindenow an der Spitze der Organisation. Zwar klingt es eigenartig, wenn die dynamische Frau von Anfang Vierzig sagt, sie wolle an Jüngere abgeben. Doch so ein Nebenjob kann auch Kraft kosten. Manchmal waren es nur zwei Personen, die alles stemmen mussten. Dass der Kern des Trägervereins heute aus sechs Leuten bestehe, sei ein großer Fortschritt. Das Festival wird also weiterleben – mit Veränderungen. Schon der Turnuswechsel von halbjährlich auf jährlich war so eine. Eine weitere die Ausweitung der Einzugszone. Wie es der Name ausdrückt, waren zunächst nur Lindenauer Institutionen dabei. Die Öffnung nach Plagwitz und Leutzsch 2012 brachte einen enormen Zuwachs an Veranstaltungsorten, damit aber noch mehr Aufwand.
Die Gemeinschaftsaktion von nichtkommerziellen Kunstorten war zuerst ganz nachbarschaftlich ausgerichtet. Von den Gründern sind heute noch D21, Ortloff und A/V dabei. Heute ist nicht nur das Areal größer, auch die qualitative Dimension. Unter den Veranstaltern gibt es darum stets heftige Diskussionen über die Grenzziehung. Ist Halle 14 ein Offspace? Ist es der ebenfalls in der Spinnerei ansässige Intershop Interdisciplinaire? Auch Einrichtungen, die man eigentlich nicht mit Kunst assoziiert werden, sind dabei. So der Gemeinschaftsgarten Annalinde. Da werden aber tatsächlich Fotos gezeigt sowie Performances zu Herrn Schreber.
„Lindenow ist ein Platz für den Kunst- und Ortsdiskurs, nicht für den Verkauf“, sagt Anna Schimkat. Kommerzielle Galerien werden auch zukünftig draußen bleiben. Sie freut sich aber darüber, dass heute die Veranstaltung von Künstlern angenommen wird, die nicht mehr direkt zum Nachwuchs gehören. Die Freiluftgalerie der Gedok-Frauen hinter der Spinnerei gehört dazu. Auch Klaus-Peter John, von dem die Videoaufzeichnung einer früheren Performance im damals noch ruinösen Westbad zu sehen ist.
Die Obergrenze ist gezogen mit dem Ausschluss des Kunstmarktes. Und nach unten? „Wir sind keine Kunstpolizei.“ Also können auch Amateure mitmachen, der Besucher muss dann selbst sortieren. Der Charme des Improvisierten ist immer schon ein Bestandteil des Lindenow. Manche Ausstellung ist nicht fertig, wenn die Besucher kommen, manche ist als solche gar nicht so leicht zu erkennen. „Praline“ ist zwar ein süßer Name, aber soll das Holzhäuschen an der Lützner wirklich ein Kunstraum sein?
Neu sind die geführten Spaziergänge durch das Areal. Nicht ganz neu ist die unterdessen sogar von der Dokumenta kopierte Idee eines Festivalradios. Manchmal kann jedoch was richtig schief gehen, sogar zum Jubiläum. Eine Neugestaltung der öden Front von Kaufland am Lindenauer Markt wurde angekündigt, fällt aber aus. Der Vorschlag des Duos Art'n More (Paul Bowler/Georg Weißbach) fand bei den Entscheidern des Handelsriesen keinen Gefallen.
Am Eingang der „Destillate“ winkt der vergoldete Katzenarm eines chinesischen Spielzeugs den Besucher aus einem Betonklotz zu, ebenfalls eine Arbeit von Jula Baltschun. Gentrifizierung wird zum Thema von Lindenow. Das Geld muss sich nicht mehr einsam fühlen.
Festivalzentrum Ecke Merseburger/Endersstraße; Eröffnung Freitag 18 Uhr, Sa 15–22 Uhr, So 15–20 Uhr; Gesamtprogramm: www.lindenow.org
Von Jens Kassner
LVZ