„Wunder, Wunder, nicht nur heute“ – eine Weihnachtsgeschichte von Heike Geißler
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Simone Waßermann hat Heike Geißlers Weih
© Quelle: Simone Waßermann
Leipzig. Es war einmal eine ganze Menge. Es war einmal eine Überfülle. Es war einmal ein kompliziertes Jahr, dem schon mindestens zwei komplizierte Jahre vorausgegangen waren. Es war einmal ein Abwinken und noch eines. Es war einmal ein steif werden vor Schreck und Angst. Es war ein Trotz gegen alles und alle, das und die Angst verbreiteten. Ja, ein gewaltiger Trotz. Es war eine Frau, die sagte: Alles wird schlechter, wirklich, sieh dich doch um. Das war keine böse Fee und keine Hexe, aber sie war auch keine diplomatische Frau. Sie war eine Frau, die ihre Eindrücke hatte, sie stand morgens in der Umkleidekabine eines Fitnessstudios und würde gleich mit ihren Freundinnen zur Aquagymnastik gehen. Ja, das Wasser war kälter als noch vor einem Jahr.
Es war einmal dies und es war einmal das. Es war wirklich eine solche Menge. Es war einmal eine Prinzessin, und es war einmal ein Prinz. Es war einmal ein König, der ahnte, die Sache mit der Monarchie ging nicht mehr lange gut, die war aus der Mode gekommen und durch Ungerechtigkeit groß geworden, aber er wollte nicht der sein, der sie beendete. Es war ja doch auch gemütlich in seiner Position. Er konnte nämlich sagen: Na hören Sie mal, was erlauben Sie sich, ich bin der König hier. Das Gute aber ist, auch Sie und ich können das sagen, und wir können uns dann zunicken und bestätigen, dass das stimmt. Hallo, König. Hallo, Königin. Es war einmal ein Land voller Könige und Königinnen, das waren, das sind Sie und ich und andere Leute. In diesem Land war ein sogenannter Putschprinz dann wirklich ein sehr kleines Licht, denn er war nur ein mickriger Prinz unter Höhergestellten.
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Die Schriftstellerin Heike Geißler lebt in Leipzig.
© Quelle: Heike Steinweg
Es war einmal eine Erde, es war einmal ein Tag, es war einmal viel Geld oder wenig. Es war einmal ein Schatz, das war ein Goldklumpen, groß wie der Mond in jemandes Händen, der hingegen wirklich kein Schatz war, sondern eher ein Monster. Man könnte das im Wirtschaftsteil anders formulieren, für diesen Text hier ist das jedoch in Ordnung: Er war ein Monster. Überhaupt muss man sagen: Es waren sehr viele Monster unterwegs oder saßen statisch auf und inmitten ihrer unheimlichen, überbordenden, altmodischen Macht. Es war einmal ein Wunder, das nur Sie als Wunder bezeichneten, aha. Was war es denn genau? Sie sagten: Ist mir doch egal, ich werde es jetzt nicht nochmal erzählen: Es war ein Wunder, und basta. Das sagten Sie sehr eindrucksvoll, und niemand wollte an Ihrer Entscheidung rütteln, ein Wunder zu erkennen, wo Sie es eben sahen.
Zur Person
Heike Geißler wurde 1977 in Risa geboren, heute lebt sie in Leipzig. Für ihr Romandebüt „Rosa“ erhielt sie 2001 den Alfred-Döblin-Förderpreis. Ihr Roman „Die Woche“ (Suhrkamp) war für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 nominiert, 2023 erhält sie für das Buch den Lessing-Förderpreis.Es sei für sie eine Form von Inventur, sagte Geißler bei der LVZ-Lesenacht im März. Ihre beiden Hauptfiguren bezeichnen sich als proletarische Prinzessinnen und wollen, dass Veränderungen auf der Stelle geschehen.Dafür braucht man Wunder, und um solche Wunder geht es auch in dieser Weihnachtsgeschichte: Wunder, „die nötig sind in einer Welt voller Potenzial zu Schönheit, Zuversicht und Solidarität, die aber zu oft von bürokratischer und menschlicher Grausamkeit regiert wird“.
Es war einmal eine Entscheidung, die stand auf wackligen Beinen, aber jemand stützte sie. Es war eine Entscheidung, die war alt, die hatte Mühe, selbst den modernsten Niederflurbus zu besteigen, und wer das sah – ja, das sahen alle – half ihr in den Niederflurbus. Es war einmal eine Prinzessin mit Burnout, das kann schon mal vorkommen, das lag auch nicht direkt am Job. Ja, sie hatte einen Job, sie war eine proletarische Prinzessin. Ihre Erschöpfung resultierte aus den Umständen. Aus den kleinen, wie den lärmenden Nachbarn, und den großen, wie dem Tosen der Wirtschaft und der Politik. Sie war ein Mensch mit Ansprüchen, nicht zu hohen Ansprüchen, würde sie sagen, mit recht schlichten Ansprüchen: Man möge nett zu mir sein, mir bezahlbaren Wohnraum geben, mich nicht bestehlen, mir aufrichtig begegnen und mich nicht nur als potenzielle Konsumentin von irgendwas betrachten, sondern als ebenbürtige Bürgerin unter ebenbürtigen Bürgerinnen und Bürgern.
Aber nun ja, diese eher vorsichtigen, kleinen Ansprüche schienen doch sehr große und kaum erfüllbare zu sein, oder was war los? Die Prinzessin lag darnieder und sagte, sie könne nicht mehr. Und es war auf einmal und immer häufiger zugegen die Frage danach, was bisher geschah, also: Was ist bis jetzt eigentlich alles geschehen? Was ist denn passiert? Und es gab einige, die versuchten, darauf zu antworten, aber dann hielten sie inne und wandten sich anderen Dingen zu; wirklich niemand war in diesem Moment für einen Rückblick zu haben.
Es war einmal ...
Es war einmal eine Landmaus, oder das war eine Stadtmaus, schwer zu unterscheiden, sie war in gewisser Hinsicht beides, wenn sie es auch nicht zugleich und beides schon mehrfach in ihrem Leben gewesen war, das bereits länger währte, als man vielleicht denken könnte. Es war also einmal eine Stadt- und Landmaus, die hatte Wirkungsstätten, und sie hatte auch ein Werk und sagte: Ich möchte als genau solch eine Maus in die Geschichte eingehen, als Maus mit diversen Lebensorten und unterschiedlichen Wirkungsstätten, und um diese Sache sicherzustellen, um also wirklich so und überhaupt in die Geschichte einzugehen, schreibe ich die Geschichte neu.
Es war einmal ein Vorhaben, das umgesetzt wurde, denn es war das Vorhaben einer wichtigen, emsigen Maus, aber dazu kam sofort ein Vorhaben, das nicht umgesetzt wurde, und es gab diese Frage: Ja, warum denn eigentlich nicht? Warum wurde es nicht umgesetzt? Und es gab einen Hauptbahnhof, der hatte keine Klos für die Obdachlosen und Bettelnden, der war deshalb an seinen Außenmauern ein einziges Klo und stank jeden Tag mehr. Nun aber kommt Ihre Wunderkraft zum Zug, denn Sie sorgten für ein Klo, nein, nicht nur eines, für einige, etliche, für ausreichend Klos! Sie nahmen der Stadt die Entscheidungsschwerstarbeit ab und schufen Klos, die es schon längst hätte geben müssen. Ich käme hier zu keinem Schluss, wenn ich nun aufschreiben würde, was Sie schon alles mit Ihrer Fähigkeit, Wunder zu tun, bewirkt haben. Und ja, Sie wissen schon, es geht um diese Sorte Wunder, die eigentlich – also ganz unter uns – keine sind, es geht um Ihren Einsatz bei Angelegenheiten, die nur durch beispielsweise bürokratische, behördliche Verzögerungen, durch Nicht-Entscheidungsprozesse unglaublich verkompliziert werden, die immer Zeit und manchmal Leben kosten. Oder lassen Sie mich das anders sagen, denn die behördlichen Verzögerungen sind ja keine Nicht-Entscheidungsprozesse. Es sind immer Prozesse, die auf Entscheidungen beruhen, und die Entscheidung der Behörde könnte also folgendermaßen lauten: Wir entscheiden in dieser Sache vorerst nicht, wir geben uns als nicht zuständig aus und verweisen an eine andere Stelle, die sich dann als nicht zuständig ausgeben kann und an uns zurückverweist, mit der Bitte darum, den antragstellenden Personen eine neue Hürde in den Weg zu stellen, von der vorher nie, nie, nie die Rede gewesen war.
Heute aber geht das anders aus, nur heute, was schade ist, was eine schlichte Unmöglichkeit ist, weil es so nicht im Gesetz steht und weil es tatsächlich an jedem Tag möglich sein muss, antragstellenden Personen zu ihrem Recht zu verhelfen. Wir wollen jetzt vielleicht, um uns nicht zu ärgern und in Hektik zu verfallen, außer Acht lassen, dass an einem Tag, an dem selbst die Geschäfte viel früher schließen, behördlich nicht viel bewegt werden kann. Aber Sie richten das alles. Was Sie heute nicht schaffen, richten Sie in den nächsten Tagen und Wochen. Ihre Hilfe wird gebraucht, und, wie gesagt, wir reden ja hier nicht nur von Hilfe, wir reden von Wundern, die nötig sind in einer Welt voller Potenzial zu Schönheit, Zuversicht und Solidarität, die aber zu oft von bürokratischer und menschlicher Grausamkeit regiert wird.
Ein trauriges Märchen, ein trauriger Fall
Es war einmal eine Ärztin, die sagte meiner Mutter, die seit 50 Jahren Tag für Tag Schmerzen hat, sie solle den Patienten und Patientinnen, die noch arbeiten müssten, den Vortritt lassen, sie solle zu deren Gunsten auf eine Physiotherapie verzichten, weil sie doch sowieso nur den ganzen Tag auf dem Sofa sitze. Diese Ärztin gab es wirklich, und wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie noch heute. Ja, sie lebt noch und ignoriert, dass meine Mutter seit ihrem 14. Lebensjahr kontinuierlich und meistens körperlich schwer gearbeitet hat und zu niemandes Gunsten verzichten soll. Es war einmal eine Ärztin, die hatte sich die Fehler und Eigenheiten des Gesundheitssystems, in dem und für das sie arbeitete, einverleibt und sich entschieden, nicht das sie finanzierende Gesundheitssystem als problematisch zu betrachten, sondern jene, die vom Funktionieren des Systems abhängig waren und durch das Nichtfunktionieren des Systems gequält wurden. Ja, ein trauriges Märchen, ein trauriger Fall.
Es war einmal ein Wasserfall, dem konnte man näher kommen und sich von seinem Tosen alle Sorgen übertönen lassen. Der Wasserfall sah nicht einmal besonders imposant aus. Er war nicht aus Höhe gemacht. Eher aus Impertinenz und einem Platz unter den bekanntesten Wasserfällen Europas, und er war sehr wirksam für den Moment, seine Wirkung hielt einen Tag an, und das war schon was, sagten manche. Es waren bescheidene Zeiten, aber es war nur für manche eine Zeit der Bescheidenheit.
Oh, es war einmal ein müdes Märchen, in dem eine müde Prinzessin versuchte, eine Ordnung zu erzeugen, die ein bisschen halten könnte, und etwas zu sagen, das etwas Wahres wäre, aber sie war so verwöhnt von den Märchen, also wirklich. Während sie sich um eine Ordnung zu bemühen schien und Sinn von Unsinn zu unterscheiden versuchte und dabei auch die Hilfe einiger Stadttauben beanspruchte, deren Geruch und Gegurr sie eigentlich nicht mochte, während sie sich halbwegs konzentriert Mühe gab, alles gut zu unterscheiden, wusste sie nicht so genau, für wen und warum sie das eigentlich tat, und wie nun genau Sinn von Unsinn zu unterscheiden war, wenn es doch genug Beispiele gab, die vermeintlichen Sinn als Unsinn und Unsinn als Sinn vorführten – sie verhedderte sich, aber das war möglicherweise eine gute Sache, ja, sie hätte eine gute Protagonistin in einem recht interessanten Märchen werden können. Sie ließ dann aber von ihren Gedanken ab und erinnerte sich, das in anderen Märchen nach getaner Arbeit, nach aller Emsigkeit eine Belohnung erfolgte, dass also beispielsweise aus einem Kürbis eine Kutsche wurde, und aus der Kutsche eine gute Fahrt zu einem guten Ball zu einem goldenen Prinzen, keinesfalls wäre er nur goldig. Daran also dachte sie und kam nicht mehr umhin festzustellen, dass sie keinen Kürbis hatte. Sie musste also los, sich einen Kürbis kaufen.
Etwas glitzert jetzt
Es war einmal ein böses Lachen für jeden Supermarktbesuch und die Feststellung, dass ja wirklich alles teuer war, und es gab dann die unterschiedlichsten Versuche, damit umzugehen: Trotzkäufe, ja, es gab die, die sagten Ist mir doch egal, ich kaufe jetzt erst recht. Und es gab die, die sparten, indem sie viel weniger kauften. Und es gab die, die wollten gern sagen Ist mir doch egal, konnten das aber nicht mehr sagen, weil es nun einmal nicht ging.
Es war einmal Geld, es gab also diese Sache mit dem Geld, es gab diese großen Fiktionen Geld und Warenwert und Angebot und Nachfrage und Bedürfnis, die erzeugten Pflichten und Dramen und waren zugleich absolut zu belächeln, weil sie nun einmal vor allem eine große Show, ein beeindruckender Auftritt, sogar eine Glanznummer waren, aber zugleich eben Fiktionen und auf jeden Fall wirklich eine Sache, zu der jedes halbwegs an Märchen geschulte Kind hätte sagen können: Unser Wirtschaftssystem hat ja gar nichts an, unser Wirtschaftssystem ist ganz aus Märchen gemacht, das Wirtschaftssystem ist nackt, und es stinkt außerdem! Und die gesamte Bevölkerung, die kein Volk ist, würde das bestätigen, als hätte sie das nie anders gedacht und würde sagen: Aber ja, das wissen wir doch, das ist doch klar, das wussten wir doch längst. Da kann man doch nichts machen, da muss man doch auch nicht drüber sprechen, meine Güte, das Kind nervt. Kann dem Kind mal jemand Benehmen beibringen? Es war aber einmal ein Tag, da sagte und dachte niemand dergleichen Dinge.
Es war einmal ein Tag, da gab es Pläne und Austausch und Zeit, die genauso eine Fiktion wie das Geld war, und die Beantwortung der Frage Wie geht’s dauerte lange, aber wie sollte es auch anders sein. Es war einmal eine strapazierfähige Zeit, die einiges auszuhalten vermochte. Und dies noch und das noch. Aber eigentlich hatte diese Zeit, wie viele Zeiten vor ihr, ein Limit erreicht. Sie war ungeachtet ihrer Aushaltbarkeit eine unaushaltbare geworden. Aber sie war immer noch Zeit, und das war fast schon lustig. Es war einmal dieser Spruch: „Unmögliches erledigen wir sofort. Wunder dauern etwas länger.“ Es war einmal eine Zeit, die nicht darauf aus war, Wunder zu tun, weil sie die Wunder ganz falsch verstand. Ja, jedes Wunder ist harte Arbeit. Sie wissen das. Sie können die Arbeit hinter wirklich jedem Wunder erkennen.
Und ich füge an, weil man es erzählen muss, damit es sich verbreitet: Dem Faustkeil ging der Beutel voraus. Es war also einmal ein Beutel, in den sich Früchte füllen ließen, und erst nach dem Beutel wurde der Faustkeil erfunden. Das hat die Autorin Ursula K. Le Guin schon der Großmutter meiner Großmutter gesagt, und deshalb ist es eine wahre Geschichte von maximaler Glaubwürdigkeit, und sie ist für manche ein alter Hut, aber noch nicht alle haben bedacht und verinnerlicht, dass der Beutel vor dem Faustkeil kam, denn immer ist so wenig Zeit, zusätzlich zu dem, was man sowieso im Kopf haben muss, noch etwas aufzunehmen. Es war einmal ein Beutel, er ist hier, er ist leer, und Sie können ihn füllen. Etwas glitzert jetzt. Das ist heute so.
Lektüre-Tipp: Heike Geißler: Die Woche. Roman. Suhrkamp Verlag; 316 Seiten, 24 Euro
Von Heike Geißler