Wenn Haltung konkret wird: Dafür erhält Serhij Zhadan den Friedenspreis
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Der ukrainische Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
© Quelle: Dominic Steinmann/Keystone/dpa
Leipzig. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erinnert an Krieg. Denn wenn es darum geht, Persönlichkeiten auszuzeichnen, die zur „Verwirklichung des Friedensgedankens beitragen“, dann wird das Gelingen auch an einem Scheitern gemessen, dessen Folgen die Welt betreffen. In diesem Jahr geht der Friedenspreis an den ukrainischen Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan. Das gab der Stiftungsrat am Montag bekannt.
Serhij Zhadan wurde 1974 in Starobilsk im Gebiet Luhansk geboren, er lebt bis heute in Charkiw. Und er gehört mit seinen Romanen, Gedichten, Essays und Songtexten nicht nur zu den wichtigsten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Er organisiert Literatur- und Musikfestivals und leistet seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar humanitäre Hilfe.
Serhij Zhadans Roman „Internat“ erzählt vom Krieg
Auf Deutsch sind 2006 unter dem Titel "Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts" zuerst Gedichte erschienen, gefolgt von den Romanen "Depeche Mode" und "Die Erfindung des Jazz im Donbass" sowie dem Prosaband "Anarchy in the UKR". Sein 2017 erschienener Roman "Internat" erzählt vom Krieg im Donbass. Pascha, ein Lehrer für Ukrainisch, will seinen Neffen aus dem Internat holen. Am meisten irritiert ihn, selbst zwischen Fronten zu geraten.
Was auf diesen 300 Romanseiten fesselt und quält, ist nicht allein die Auseinandersetzung mit Politik und Moral, Haltung, Feigheit und Mut. Es sind die Verheerungen durch Hass, Wut und Misstrauen, denen mit Wegschauen nicht beizukommen ist. „Ich habe niemanden gerufen, ich habe niemanden vertrieben“, denkt Pascha, der nicht bemerkt hat, dass seine Schüler gegen ihn kämpfen. „Ich mache einfach meine Arbeit“, glaubt er. Die Direktorin des Internats macht ihm klar, dass am Ende alle bezahlen. Und Pascha bekommt es zu spüren, als er mit seinem Neffen durch die sich in Gewalt auflösende Stadt irrt.
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Für ihre Übersetzung ins Deutsche erhielten Juri Durkot und Sabine Stöhr 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse. Er schien weit weg damals, der Krieg im Donbass, in der Ostukraine. Serhij Zhadan schreibt in „Internat“ auch über das Nichtvorhersehen und Nichtverhindern. In Bildern, Gerüchen und Gefühlen rückt Gewalt den Lesern auf die Haut.
Stiftungsrat würdigt Serhij Zhadans humanitäre Haltung
Der Stiftungsrats des Friedenspreises ehrt Zhadan „für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft“. Er beschreibe eine Welt, „die große Umbrüche erfahren hat und zugleich von der Tradition lebt. Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern.“ Dabei führe der Schriftsteller eindringlich und differenziert vor Augen, „was viele lange nicht sehen wollten“.
Der mit 25.000 Euro dotierte Friedenspreis wird seit 1950 vergeben. Im vergangenen Jahr hat ihn die Schriftstellerin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga in der Frankfurter Paulskirche entgegengenommen und war kurz darauf in Leipzig beim Literarischen Herbst zu Gast. Dass die Gewalt des simbabwischen Staats kein isoliertes historisches Ereignis sei, hat sie in ihrer Rede gesagt. Im Februar gehörte sie der internationalen Jury der Berlinale an, an diesem Sonntag hat sie das Literaturfestival „Lit:potsdam“ eröffnet, hat über weibliche Selbstbestimmung in Afrika und globale Gerechtigkeit gesprochen.
Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga vor Gericht
In ihrer alten Heimat aber läuft ein Prozess gegen Tsitsi Dangarembga.Weil sie 2020 in Simbabwe an regierungskritischen Protesten teilgenommen hat, wird ihr dort „öffentlicher Aufruf zu Gewalt, Friedensbruch und Bigotterie“ vorgeworfen, muss sich die 63-Jährige im August vor einem Antikorruptionsgerichtshof in der Hauptstadt Harare rechtfertigen.
Darüber wird nun auch hierzulande berichtet, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Berlinale, das PEN-Zentrum der PEN Berlin fordern, das Verfahren sofort einzustellen. Der Friedenspreis, das wird nun deutlicher denn je, schärft die Wahrnehmung. Für die Welt – und für Gewalt.
Info: Die Verleihung des Friedenspreises findet am 23. Oktober 2022 in der Frankfurter Paulskirche statt und wird live um 10.45 Uhr in der ARD übertragen.
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