Wilco legen ihr Meisterwerk „Being There“ neu auf
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Einer der eindringlichsten Sänger und Songwriter: Wilco-Chef Jeff Tweedy (hier bei einem Konzert im Mai 2007 im Dresdner Alten Schlachthof).
© Quelle: Dietrich Flechtner
Hannover. Eben war‘s noch pure Countrymusik. Über die mit Metallklauen gepickte Pedalsteel-Gitarre, die aussah wie eine schlanke Zither, fuhr ein spiegelnder Metallzylinder. Und wenn je eine Gitarre weinte, dass es einen Redneck erbarmte, dann dieses zwölfsaitige Ding, damals im Dezember 1996 beim Eröffnungssong des ersten Deutschlandkonzerts von Wilco im Knust, einer schwarzen, verräucherten Hamburger Live-Grube.
Wilco waren immer für Überraschungen gut
Aber das durfte man nicht missverstehen. Schon im nächsten Moment konnte alles anders sein bei Wilco aus Chicago. War dann auch alles anders. Break. Ein kaum hörbares „three, four …“, und Jeff Tweedy klebte nicht mehr mit brüchiger Stimme am Mikrofon, sondern schrie hinein: „You’r e so misunderstooood!“ Dabei keine Spur von Mitleid mit dem Unverstandenen. Eher Unverständnis über den schon damals modischen Hang zum Unverstandensein. Ein schartiger Riff. Dissonanzen. Die Instrumente lösten sich von der Melodie, verwirbelten zu Kakophonie. Rednecks hätten jetzt Steckbriefe für diese Country-Hippies geklebt: Wanted dead or alive. Waren aber keine Rednecks erschienen im Knust.
Der „Rolling Stone“ schwärmte von „Being There“
Gerade eben erst war deren zweites Werk „Being There“ in die Läden gekommen. Und der noch recht junge deutsche „Rolling Stone“ schwärmte von einem „vorzüglichen Doppelalbum“, hatte „Being There“ zum „Tonträger im November“ gemacht und nannte den Songwriter, Sänger und Gitarristen Jeff Tweedy einen „Jünger mit vielen Propheten“, seine Stimme „schmal und säuerlich“, einen Mann, „dem die Kinks nicht minder am Herzen liegen als die Stones“.
Tweedy hatte eine Geschichte. Seine vorherige Band Uncle Tupelo war sieben Jahre lang Aushängeschild des Alternative Country gewesen, einer Mischung aus Country und Indierock. Das erste Wilco-Album „A. M.“ trug 1995 noch das Echo des Tupelo-Sounds. Und jetzt: Rock’n’Roll, Beat, Blues, Folk, Bläsersätze, Wah-Wah, Beach Boys, Byrds – ein bravouröses, modernes und klassisches Sound-Ratatouille, das sich in den kommenden Jahren zum inspiriertesten umarmendsten Rock aus Amerikas Herzland weiten sollte.
Die Deluxe-Edition zeigt die Intensität der Band
Von diesem ersten Meisterwerk der Band liegt jetzt eine 20-Jahre-Deluxe-Edition vor. Eigentlich ist‘s schon 21 Jahre her - das Zusammenstellen dauert halt immer so seine Zeit. In diesem Fall lohnt der Zugriff. Anders als bei jüngsten Festtagsausgaben alter Alben von Queen („News Of The World“) oder Sex Pistols („Never Mind The Bollocks“) ist die Ausbeute fürstlich: fünf Discs, darauf das Originalalbum, 15 ungehörte Songs oder deutlich von den Originalen abweichende Songversionen– knochentrockener Folk, knarzender Rock. Zwei Livescheiben am Ende, die die melancholisch-fiebrige Intensität dieser Band nachweisen. „Will You still love me Tomorrow“ seufzt Tweedy ganz am Schluss dieses Pretiosenschächtleins den alten Song der Shirelles. Barmender Bariton, sacht tastendes Schlagzeug, trauriges, angesoffenes Klavier.
Der Beginn einer großen Freundschaft
Und man liebte sie nicht nur morgen sondern immerdar, bis heute, wo man „If All I Was, Was Black“, das neue Album der Soullegende Mavis Staples, vor allem deshalb gekauft hat, weil Tweedy es produziert und die Songs geschrieben hat. Seit man damals auf Armlänge von Wilco entfernt stand, zwischen einem selbst und der Gitarre Jeff Tweedys nur ein paar Fotografenkoffer, viele Kabel und diverse abgelegte Anoraks, ist man die Band nicht mehr losgeworden.
„Habt ihr eine schöne Zeit hier!“ fragte Tweedy damals mittendrin, gefolgt von einhelligem „Yeeeah!“-Gegröhle. „Ich nicht“, konterte der Sänger dann mit leichtem Griesgramgrinsen. Es war ein Abend, wie man sich die Geburtsstunde des Rock’n’Roll vorstellte. Und „Being there“, da zu sein, war das Gebot der Stunde. Tickets gab‘s nicht zur Erinnerung, nur Stempel auf den Handrücken. Das Ziel der Souvenirjäger war somit das einsame Wilco-Poster im Treppenaufgang des Knust. Das der Sieger draußen in der Kälte dann schwenkte wie einen World Cup. War ja auch einer, klar.
Wilco: Being There – Deluxe Edition (Reprise/Warner)
Von Matthias Halbig / RND