Die Lust lässt nach – von wegen! Wie Sex auch im Alter genussvoll wird
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Völlig normal: Auch im Alter haben viele Menschen sexuelle Bedürfnisse und wollen diese ausleben.
© Quelle: Patrick Seeger/dpa
Berlin/Kiel/Coburg. Sexualität im Alter, kaum jemand spricht offen darüber – schon gar nicht über eigene Bedürfnisse, Hemmnisse und die damit nur allzu oft verbundene Scham. Die Konsequenz ist: Das Sexleben schläft ein und kommt am Ende ganz zum Erliegen.
Doch wie ist das eigentlich mit der sexuellen Lust? Gibt es ein bestimmtes Alter, in dem sich ein Schalter umlegt, so wie es landläufig verbreitete Mythen verheißen – und dann ist sie weg, die Lust? „In Medien, Filmen, Werbung: Sex wird fast immer dargestellt von jungen Menschen. Dabei sind wir bis zum letzten Atemzug sexuelle Wesen“, sagt Prof. Michael Vogt von der Hochschule Coburg. Er forscht zum Thema Partnerschaft und Sexualität im Alter und ist Paartherapeut. Auch über 90‑Jährige suchen bei ihm Beratung.
„Das Bedürfnis nach Sexualität lässt nicht nach“, sagt er. Aber es könne sich verändern, eine andere Ausdrucksform bekommen. In höherem Alter stünde häufig nicht mehr das große orgiastische Empfinden im Vordergrund, eher der Austausch von Zärtlichkeit.
Der Körper gibt den Takt vor
Michael Sztenc ist Paar- und Sexualtherapeut in Saarbrücken und arbeitet mit Menschen aller Altersgruppen „an der Entwicklung ihrer Sexualität“, wie er im RND-Podcast „Ach, komm!“ erzählt. Im Alter könne das bedeuten, auch auf körperliche Einschränkungen wie etwa Rücken- und Gelenkprobleme einzugehen: „Denn machen wir uns nichts vor, am Ende sitzt der Körper am längeren Hebel.“
Auch er sagt: „Die sexuelle Funktion ist bis ins hohe Alter da, aber alles dauert eben ein bisschen länger.“ Das könne man bedauern oder aber für sich nutzen und den Genuss beim Sex in den Vordergrund stellen, frei nach dem Motto: „Jetzt habe ich genug geackert, jetzt wird auch mal geerntet.“ Dabei sei es wichtig, mit dem Partner oder der Partnerin ins Gespräch zu gehen, denn: „Guter Sex ist Teamwork.“ Dazu gehöre auch, Sztenc zitiert die deutsch-amerikanische Sexualtheraputin Ruth Westheimer, selbst stolze 94 Jahre alt: „Ihr müsst euch anfassen.“ Denn die bloße Vorstellung reiche ab einem gewissen Alter oft nicht mehr aus, um die Erregung hochzufahren.
Unlust hat häufig psychologische Ursachen
Hinzu kommt: Männer hätten im Alter beispielsweise häufiger mit Erektionsproblemen zu kämpfen, Frauen mit Scheidentrockenheit aufgrund der nachlassenden Östrogenproduktion, sagt Aglaja Stirn, Professorin für Psychosomatische Medizin und Sexualmedizin an der Universität Kiel. Ob Tabletten oder Cremes – diese körperlichen Beschwerden lassen sich häufig in den Griff bekommen. Erste Ansprechpartner sind die Gynäkologin und der Urologe.
Doch das seien laut Aglaja Stirn oft gar nicht die Hauptgründe für fehlende Intimität – die lägen im Alter häufig tiefer, auf der psychologischen Ebene. „Viele Menschen tun sich schwer im Umgang mit ihrem Körper, der im Alter nicht mehr so performt. Das widerspricht dem Leistungsprinzip, nach dem unsere Gesellschaft strebt.“
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Sexualtherapeut Sztenc formuliert es so: „Wer mit 50 oder 60 Jahren denkt, dass er den Sex wie mit 20 hat, der schafft sich ein Problem.“ Vor allem Männer lebten nach dem Leistungsprinzip. Problematisch werde es dann, wenn die Identität an Leistung gekoppelt sei, dann komme der Mann in einen Konflikt, der so: „Ich kann nichts mehr leisten, also bin ich auch nicht mehr so viel wert“ oder so ähnlich lauten könne.
50- bis 60‑Jährige werden wieder sexuell aktiver
Dem entgegen steht jedoch auch eine erfreuliche Entwicklung – zumindest für Frauen jenseits der 50. Forscher Michael Vogt sagt: „Studien zeigen, dass sich zunehmend Frauen nach der Menopause freier und offener in ihrer Sexualität fühlen und diese aktiver gestalten.“ In dieser Lebensphase seien die Kinder meist aus dem Haus, auch das Berufsleben verlaufe ruhiger oder die Rente stehe schon an. Viele Menschen hätten dann die Muße, sich noch einmal ganz neu mit ihrem Partner zu beschäftigen.
Die Paar- und Sexualtherapeutin Ann-Marlene Henning bringt im RND-Podcast „Ach, komm!“ noch einen weiteren Aspekt mit ein: „Manche lernen auch noch mal spät einen neuen Partner oder eine neue Partnerin kennen, sind frisch verliebt und legen noch mal richtig los.“
Auch sie kennt das Problem mit dem „Austrocknen“, das älteren Frauen immer wieder nachhängt, betont aber auch: „Die Erregungsflüssigkeit läuft bis ins hohe Alter.“ Dennoch verspürten viele Frauen, nicht nur ältere, Schmerzen beim Sex. Im Gehirn entstehe dann Stress: „Und in so einer Situation ist Sex nicht vorgesehen“, schränkt die Sexologin ein. Ihr Kollege Sztenc ergänzt: „Etwas trotzdem zu tun, obwohl es wehtut, das ist der Lustkiller schlechthin.“ Denn: „Was im Kopf los ist, ist auch im Körper los“. Sztenc hat einen ganz pragmatischen Tipp, wie sich derartige Situationen auffangen lassen: „Knutschen ist ein gutes Mittel, um den Körper zu entspannen.“ Wenn sich der Kiefer und die restliche Gesichtsmuskulatur entspannten, dann wirke das auch in den restlichen Körper hinein.
Sexualität in Pflegeheimen – immer noch Tabuthema
Aber was ist mit Menschen, die 70 sind – oder älter? „Sie werden mit ihren sexuellen Wünschen und Bedürfnissen häufig nicht mehr gesehen“, bemängelt Vanessa del Rae, Buchautorin („Sex Deluxe – Sinnlich älter werden“). Sie weiß, wovon sie spricht: Del Rae war viele Jahre Krankenschwester, Pflegedienst- und Heimleiterin. Heute bietet sie Coachings zu den Themen Sexualität und Sinnlichkeit an – auch für Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen.
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„Gerade dort wird Menschen häufig ihre Sexualität abgesprochen“, berichtet sie. Und meint damit nicht nur Begehren und Lust, sondern vermeintliche Kleinigkeiten, die ebenfalls zur sexuellen Identität gehörten. Für die eine sei das vielleicht der BH, der trotz Bettlägerigkeit zur Garderobe dazugehöre – oder die lackierten Fingernägel. Für den anderen heißt es vielleicht, nicht nur in Jogginghose herumzulaufen oder ein schönes Rasierwasser zu nutzen.
Privatsphäre respektieren und Wünsche anerkennen
Dass solche Dinge in Heimen häufig übersehen würden, sei oft kein böser Wille, betont Vanessa del Rae, sondern dem Zeitmangel und zu wenig Wissen über die Bedürfnisse der Menschen geschuldet. Sie wünscht sich, dass diese Bedürfnisse mehr Beachtung finden und nicht tabuisiert werden.
So sei beispielsweise Masturbation nichts, das im hohen Alter einfach aufhöre, sagt sie. Gesten wie das Anklopfen, bevor man ein Zimmer betritt, könnten bereits zu mehr Entspannung führen – sowohl seitens der Bewohner als auch des Pflegepersonals. Auch wäre es wünschenswert, in Heimen Gleitgele oder Cremes gegen Scheidentrockenheit bereitzuhalten. Vanessa del Rae: „Einige Pflegeheime bieten sogar Dildoparties für ihre Bewohner an, und ich sage, warum nicht?“ Ebenso sehr begrüßt sie professionelle Sexualbegleiter, die das Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit alter Menschen befriedigen könnten.
Sehnsucht nach Berührungen bleibt – ein Leben lang
Dass diese Scham weniger wird – das hofft Professor Michael Vogt: „Es hat sich vieles verändert. Junge Menschen lernen mehr, sich ihren Gefühlen nicht zu verschließen und Probleme offener auszusprechen.“ Nun müsse es eben auch darum gehen, das Thema Sex bei der heutigen 70+‑Generation aus der Tabuecke zu holen. Denn auch wenn es vielleicht nicht jedes Mal ein Orgasmus ist: Die Sehnsucht nach Liebe, einer Berührung, einem Kuss – die bleibt. „Sex stirbt im Alter nicht aus“, so Sexologin Henning im RND-Podcast. Und Sztenc ergänzt: „Es braucht auch etwas Aktivität, um das Begehren lebendig zu halten.“
RND/caro/dpa