Was bringt Mathematik fürs wirkliche Leben?
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Viele Schüler verzweifeln an Mathematik – und auch Erwachsene scheitern an einfachen Aufgaben. Warum tun sich die Deutschen mit dem klaren "Richtig oder Falsch" so schwer?
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"Eins, zwei, drei – cheese!" Die Klasse grinst in die Kamera des Lehrers. Der Lehrer weicht einen Schritt zurück, damit auch das Brandenburger Tor Platz findet auf dem Foto. Abiturienten aus Essen auf Abschlussfahrt in Berlin, nur noch wenige Monate bis zum Ende der Schulzeit.
Welches Fach werden sie wohl am allerwenigsten vermissen? "Mathe", sagt ein Junge unter einer Mütze mit breitem Schirm. Es klingt wie ausgespuckt. "Mathe ist mies und bringt nichts", sagt sein Kumpel, und der Dritte in der Runde stellt die Gegenfrage: "Oder wissen Sie, wozu Nullstellen von Funktionen gut sein sollen?"
Schlüssel zur digitalen Welt
Mathematik: die große Unbekannte. Mathe ist die Schlüsseldisziplin zum Verständnis der digitalisierten Welt, doch die Deutschen hadern mit der Lehre von den Zahlen und den Formen. Wer die Worte "Stochastik", "Analysis" oder auch "Wurzelrechnung" in eine Unterhaltung einstreut, könnte angesichts der Reaktionen auf die Idee kommen, ins Behandlungszimmer einer Zahnarztpraxis katapultiert worden zu sein: "Uh", "Argh".
Das mathematische Unvermögen im Land ist statistisch dokumentiert. Zum Beispiel schafften es die deutschen Schüler beim letzten Pisa-Test nur knapp bis ins obere Mittelfeld – deutlich hinter Gleichaltrigen aus Korea, Singapur und Hongkong. Wobei Mathedefizite keine Frage des Alters sind: Beim Pisa-Test für Erwachsene, der PIAAC-Studie, scheiterte jeder Fünfte an den leichtesten Aufgaben.
Ganz aktuell hat die Bertelsmann-Stiftung ermittelt, dass 1,2 Millionen Schüler zwischen sechs und 16 Jahren in Deutschland Nachhilfe nehmen – weit mehr als die Hälfte von ihnen muss Mathe büffeln. Die Zeugnisausgabe ist erst wenige Tage her. In den Wochen danach laden Nachhilfeschulen gern zu "Schnupperstunden" und zum "Tag der offenen Tür" ein. "Wann, wenn nicht jetzt?", sagt der Betreiber einer Nachhilfeschule, der lieber anonym bleiben möchte, und ergänzt: "Die Nachfrage nach Mathenachhilfe ist wirklich groß."
Keine Frage der Perspektive
Günter Ziegler ist Professor für Mathematik an der FU Berlin, sein Spezialgebiet sind Probleme der Diskreten Geometrie. Ziegler wurde für seine Arbeiten vielfach ausgezeichnet, für ihn ist Mathe wahrlich keine Unbekannte. Er sagt: "Mathematik ist ein unnachgiebiges Fach." Es ist kein Vorwurf, keine Koketterie. Nur eine Feststellung. "Es gibt richtige Antworten und falsche. Man kann sich nicht mit eleganten Formulierungen durchlavieren."
Vielleicht ist es ja diese Strenge und Eindeutigkeit, die die Mathematik von anderen Schulfächern am meisten unterscheidet. Kein einerseits, andererseits. Kein Sowohl-als-auch. Ob die Lösung der Gleichung 10 + x = 20 richtig ist oder nicht, ist keine Frage der Perspektive. Nichts, worüber man geteilter Meinung sein könnte. x = 10. Punkt, aus.
"Gleichungen sind wichtiger für mich, weil die Politik für die Gegenwart ist, aber eine Gleichung etwas für die Ewigkeit." Das Zitat stammt von Albert Einstein. Die Frage ist nun aber, wie eine Disziplin, die sich der Ewigkeit und der Wahrheit verschrieben hat, in einer Zeit Bestand haben soll, die keine Gewissheiten mehr kennt? Kein Richtig, kein Falsch.
Wir haben uns ja längst eingerichtet in Ambivalenz. Unsere Art zu leben und zu denken gründet im Dilemma.
Anspruch auf Wahrhaftigkeit
Gewiss sind Diktaturen schlecht und ihre Herrscher unangenehme Gesprächspartner, aber zur Lösung der Konflikte auf der Welt sind sie unumgänglich. Wir wissen, dass Braunkohle Gift ist für die Umwelt, aber ein sofortiges Ende ihres Abbaus würde Tausende der Arbeitslosigkeit ausliefern. Windenergie ist dagegen eine saubere Sache, aber hat mal jemand errechnet, wie viele Vögel und Fledermäuse an Rotorblättern verenden?
Nichts blind glauben, lieber alles hinterfragen. Die Fähigkeit zu zweifeln wird heute schon den Kleinsten vermittelt. Und da erhebt die Mathematik Anspruch auf Wahrhaftigkeit? Womöglich ist es daher kein Wunder, dass wir uns mit ihr so schwertun. Kein Wunder, dass die südostasiatischen Länder, in denen Schule viel mit Drill und wenig mit freier Entfaltung zu tun hat, bei Pisa so gut abschneiden.
Die Welt ist weder schwarz noch weiß, kennt viele Graustufen. Alles ist relativ – da muss uns doch das binäre System von richtig oder falsch fremd werden. Deswegen können wir kein Mathe. Oder?
"Mathe kann glücklich machen"
Professor Ziegler, der Mathematiker, relativiert. Er gibt zu bedenken: "Es könnte ja auch andersherum sein: Gerade in Mischmasch-Zeiten könnte ein Fach wie die Mathematik mit ihren unzweideutigen Aussagen begeistern. 4/7 sind stets mehr als ½, ob man nun will oder nicht." Julia zum Beispiel, ein Mädchen aus der Schülergruppe vor dem Brandenburger Tor, findet Mathe aus ebendiesem Grund gut. Richtig gut. "Endlich mal ein Fach, wo es nichts zu interpretieren gibt."
Wenn Julia über Mathe spricht, klingt es beinahe so, als schwärme die 19-Jährige von einer mühsam zurückeroberten Liebe. "In der Grundschule war Mathe super. Als dann aber die Buchstaben dazukamen, binomische Formeln und so, wurde es ätzend, ich war komplett raus. Aber später, mit der Vektorrechnung, erschien alles plötzlich so klar. Wenn man das Prinzip verstanden hat, kann Mathe richtig glücklich machen."
Wovon hängt es ab, ob einer Spaß an Mathe hat oder schon beim Gedanken daran Bauchweh kriegt? Wenn Mathematik + x = Glück ist, was ist dann x? Julia scheint die Lösung zu kennen. "Ein Lehrer, der gut erklärt und sagen kann, wozu man das alles braucht."
Mathematik als Denkschule
"Auch viele Lehrer haben keine umfassende Vorstellung davon, was Mathe eigentlich ist", sagt Professor Ziegler. "Die Mathematik, die sie als Schüler und Studenten kennenlernten und heute weitervermitteln, ist nur ein kleiner Ausschnitt."
Ziegler plädiert für ein breiteres, bunteres Bild – "eines, das Mathe weniger abstrakt erscheinen lässt". Weil sie eben doch fürs Leben schult: "Mathematik ist mehr als Brüche, Zins und Dreiecke. Es ist eine gute Denkschule, man kann da Logik lernen, den Umgang mit abstrakten Konzepten, aber auch sauberes Argumentieren und Formulieren."
Gerade gut genug fürs Lehramt
Es ist seltsam: Um Geschichte oder Germanistik zu studieren, braucht man einen recht hohen Numerus clausus. Die Fächer sind an vielen Unis überlaufen. In Mathe kann sich jeder einschreiben. Die Folge: "Es sind nicht immer die Richtigen, die Mathe auf Lehramt studieren", sagt Ziegler. "Unter ihnen sind auch solche, die sich ein reines Mathe-Studium nicht zutrauen, aber meinen, dass es fürs Lehramt schon reichen wird."
Wenn Ziegler über die Tücken der Mathematik spricht, geht es gar nicht so sehr um Mathematik. Es geht vor allem um Psychologie. "Wem es an Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten mangelt, der kann andere nicht motivieren." Vielleicht hat Deutschland ja kein Problem mit Mathe. Sondern eines mit Mathelehrern.