Wie blickt ihr auf Afrika?
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Afrika ungefiltert sehen: Yewande Omotoso.
© Quelle: Times Media (PTY) LTD
Hannover. Ich habe Architektur in Kapstadt studiert. Ein Großteil unseres Studiums bestand darin, Entwürfe zu machen. Und fast immer sollten wir unsere Projekte innerhalb einer Stadt platzieren. Geografie ist nie neutral. Aber in diesem Land mit seiner Apartheidsvergangenheit ist jeder Ort schon von sich aus politisch. Oben gegen unten. Drinnen gegen draußen.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich mit meiner Klasse im Bus zu einem Projektort fuhr, nach Langa, in einem schwarzen Viertel; es war ein Ort, der in den Zwanzigerjahren für Schwarze bestimmt worden war. Wie andere Gebiete, die Schwarzen zugewiesen wurden, wird Langa als Township, Verwaltungsbezirk, bezeichnet. Es sind bis heute meist unterentwickelte städtische Randgebiete, weit weg von den Stadtzentren. Die Quartiere, die während der Rassentrennung für Weiße ausgewiesen wurden, werden – freundlicher – Vorstadt oder Nachbarschaft genannt.
Besuch im Township
Als wir nun also an jenem Morgen in der Township Langa ankamen, brach eine meiner weißen Mitstudentinnen in Tränen aus. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war. Bis mir dämmerte, dass sie heulte, weil sie Angst hatte.
Natürlich fielen wir auf bei diesem ersten und allen weiteren Studienbesuchen. Im Lauf der Jahre haben die meisten von uns gelernt, nicht herumzustolzieren mit unseren Skizzenbüchern und Stiften bewaffnet wie mit Schild und Schwert. Wir lernten, wie wir in einen Ort hineingehen, wir lernten, um Zutritt zu bitten.
An jenem ersten Tag aber sah die junge Weiße nur das Bild, das die Propaganda ihrer Kindheit in ihr Hirn gebrannt hatte: Ich betrete jetzt eine schwarze Township und werde hier wohl nicht mehr lebend rauskommen.
Ich habe keinen Kontakt mehr zu der Studentin von damals. Aber sie fällt mir ein, wenn ich darüber nachdenke, wie wir einander sehen: Wie sehen Afrikaner andere Afrikaner? Wie sehen wir Afrikaner euch Europäer? Wie seht ihr Europäer uns? Starren wir uns noch an – oder beginnen wir einander wirklich zu sehen?
Richtig sehen
Vielleicht hat auch meine Kommilitonin inzwischen das Schwierige gelernt: richtig sehen.
Sehen hat immer auch zu tun mit dem Bewusstsein für das eigene Sein in all seiner Komplexität, seinem Fluss. Jedes Sehen, das dieses Bewusstsein ausschaltet, ist schlechtes Sehen. Für mich als Schriftstellerin – und ich müsste eigentlich sagen können: für mich als Person – ist Sehen von ganz großer Bedeutung. Ich habe gelernt zu sehen, indem ich mich ständig daran erinnere, wie schlecht ich noch darin bin. Mich daran zu erinnern, wie blind ich bin. Immer den grauen Star mit zu bedenken, der über meinem inneren Auge liegt, weil ich bin, wer ich bin, was ich schon weiß, wie ich denke. Richtig zu sehen ist nachzugeben ohne Angst, Entdeckungen zu genießen und schlicht zu spüren, dass Sehen wie Atem und Herzschlag ein Lebenszeichen ist.
Mit meinem Roman „Die Frau nebenan“ habe ich eine wichtige Erfahrung gemacht. Er wurde übersetzt, auch ins Deutsche. Und weil das Buch dann in europäischen Ländern verkauft wurde, habe ich bei Lesungen und Gesprächen noch eine ganz eigene Erfahrung gemacht: Ich war zum ersten Mal dem europäischen Blick auf die afrikanische Autorin ausgesetzt. Natürlich ist das eine vielschichtige Angelegenheit. Ich will nicht viel dazu sagen, nur dies: Es hat mich zurückgeholt in die Zeit des Architekturstudiums und den politischen Unterschied zwischen Schauen und Sehen, zwischen Angeschautwerden und Gesehenwerden. Es hat mich zurückgestoßen in die alte Wahrnehmung von Macht und Vorurteil und die Enge, die damit verbunden ist.
Ewiges Klischee Afrika
Afrika, seine Menschen und Kulturen sind immer falsch dargestellt worden, vor allem in westlichen Medien. Afrika ist auf ewig arm, heiß, schwarz und hilfsbedürftig. Der Schriftsteller Binyavanga Wainaina hat sich 2006 darüber lustig gemacht in seinem lehrreichen Buch „Wie man über Afrika schreiben sollte“. Das könnte genauso gut heißen „Wie man Afrika sehen sollte“.
Seither ist es schick geworden unter aufgeklärten Europäern, positive Geschichten aus Afrika zu fordern. Eine Forderung, die noch verkompliziert wird durch ständige Anweisungen, worüber Afrikaner schreiben sollten und worüber nicht. Da werfen Kritiker den einen vor, in „Armutspornografie“ zu versinken, und den anderen, elitär zu sein und das Schicksal der Massen zu ignorieren. Beides – der Ruf nach Positivem wie die Schelte für Berichte über Armut und Mangel – ist für mein Gefühl einfach mehr von demselben alten grauen Star: Keins von beidem stärkt unsere Fähigkeit zu sehen, beides filtert, was gesehen wird und was nicht.
Dieses Bedürfnis, Sichtweisen zu manipulieren, zu korrigieren oder zu bestätigen, wäre sicher überflüssig, wenn wir die Verbindung verstehen würden zwischen Sehen und Sein. Die Korrektur wäre dann nicht draußen, bei dem, was wir sehen, sondern eher im Inneren.
Afrikanische Literatur, afrikanische Erfahrungen
Cassava Republic heißt einer der großen Verlage, die in den letzten zehn Jahren in Nigeria entstanden sind. Auf seiner Website erklärt Cassava: „Wir glauben, dass zeitgenössische afrikanische Literatur verwurzelt sein muss in afrikanischen Erfahrungen.“ Ich frage mich, ob diese Art von afrikanischer Vorgabe, so locker sie auch sein mag, nicht nur eine weitere Methode ist, unser Sehen zu kontrollieren.
Ist meine Literatur weniger afrikanisch, weil ich nicht nur in Afrika verwurzelt bin?
Meine Identität hat Bindestriche: Meine Mutter stammt aus Barbados, dort wurde ich geboren, mein Vater kommt aus Nigeria, dort bin ich aufgewachsen, bis mein Vater einen Ruf als Englisch-Professor nach Südafrika erhielt, wo ich heute zu Hause bin. Wegen dieser Bindestriche habe ich ein Leben an der Kante geführt, meiner Zugehörigkeit genauso bewusst wie meines Nichtdazugehörens und meiner kulturellen Wissenslücken, konditioniert darauf, vorsichtig zu sein, damit ich nicht stolpere und hinfalle. Es gibt keine Essenz von mir. Deshalb ist für mich die Forderung, nur Authentisches, Repräsentatives aus Afrika vermitteln zu sollen, störend. Und ermüdend. Und unmöglich.
In den Zeiten von Likes und Shares scheint der Wert einer Sache, eines Ereignisses, einer Schöpfung daran gemessen zu werden, wie viele Menschen Notiz davon genommen, sie gesehen haben. Das wäre nicht weiter problematisch, ginge es nicht einher mit der Fehleinschätzung, dass das Beste von den meisten Leuten bemerkt wird und dass das, was unbeachtet bleibt, eben nicht bemerkenswert ist.
Kostbares will ich teilen
Wenn ich als einziger Zuschauer still in der Natur sitze, wenn ich in der Nähe bin, während ein Kind geboren wird, dann verstehe ich, dass alles einen ihm selbst innewohnenden Wert hat, egal ob beachtet oder unbeachtet. Aber wenn mir etwas Kostbares begegnet, will ich es teilen. Wie dieses unglaubliche Ökosystem zeitgenössischer afrikanischer Literatur. Da sind Autoren im Gespräch, Literaturfestivals wie Writivism in Kampala oder Storymoja in Nairobi, Magazine wie „Saraba“ in Lagos und die Initiative von Thando Mgqolozana, die südafrikanische Literatur zu dekolonialisieren.
Soll ich nun werben „Schaut auf uns, seht, was wir schaffen“? Das tue ich nicht. Es würde bedeuten, dass wir Europas Wahrnehmung als Bestätigung brauchen für etwas, das schon jetzt wertvoll ist. Aber wenn Sie Spaß daran haben, wenn Sie Interesse haben, bitte schauen Sie alles an, was ich hier erwähnt habe, und noch viel mehr, das unerwähnt ist. Statt Ihnen zu sagen, worauf Sie in Afrika achten sollen und damit unser Leben auf ein Spektakel zu reduzieren, schlage ich Ihnen vor: Ich sehe Sie, und Sie sehen mich. Und dann schauen wir mal, was passieren muss, bis wir einander wahrnehmen – mit Neugier, Mitgefühl und Intelligenz.
Von Yewande Omotoso/RND