Wir Gernegrünen

Viele gute Vorsätze, aber auch viel Verunsicherung: Unser Anspruch an Umweltschutz und Nachhaltigkeit und die Realität klaffen auseinander.

Viele gute Vorsätze, aber auch viel Verunsicherung: Unser Anspruch an Umweltschutz und Nachhaltigkeit und die Realität klaffen auseinander.

Hannover. Es fällt bedeutend leichter, über Gutes zu reden als Gutes zu tun. Gerade wenn es um die Umwelt geht. Das Wohl unseres Planeten, von dem auf schicksalhafte Weise auch unser Wohl abhängt: Was kann es Wichtigeres geben? Logisch, dass 97 Prozent der Deutschen finden, dass jeder einzelne von uns mehr für den Natur- und Klimaschutz tun sollte. Jeder will sich anstrengen. Doch am Ende machen die meisten weiter wie gehabt.

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89 Prozent der Deutschen empfinden den Klimawandel als bedrohlich. Zugleich jedoch steigt der Absatz von SUVs, den enorm sprithungrigen Großstädter-Geländewagen, jährlich um rund 20 Prozent. Plastikmüll in den Weltmeeren – in jeder Minute landet eine Tonne Kunststoff in den Ozeanen – wird gar von noch mehr Bundesbürgern als gravierendes Problem wahrgenommen. Wohl auch, weil uns Bilder von verendeten Delfinen, deren Mägen voller Plastik sind, unmittelbarer ansprechen als ein diffuser, das gesamte Weltklima umfassender Prozess. Obgleich wir zutiefst ergriffen sind vom Sterben in den Meeren, trägt unser achtloses Konsumverhalten in wachsendem Maße zu ihrer Vermüllung bei.

Zahlen gefällig? Jeder Deutsche produziert 611 Kilo Abfall im Jahr, 72 Kilo davon sind Kunststoffe. Damit rangiert die Nation der angeblichen Vorzeigeökos im globalen Spitzenfeld. Immerhin sind wir inzwischen vergleichsweise umsichtig beim Verbrauch von Plastiktüten (71 Stück pro Kopf und Jahr gegenüber dem europäischen Durchschnitt von 198 oder dem EU-Schlusslicht Bulgarien mit 421 Tüten), machen das aber locker durch unsere hemmungslose Benutzung von To-go-Verpackungen wett: Angeblich 320 000 Einwegbecher werden stündlich in Deutschland verbraucht, also rund drei Milliarden Stück im Jahr.

Gute Vorsätze, wenig Veränderung

Dass mehr als doppelt so viel Obst und Gemüse in Plastikverpackung im Supermarktregal landet wie noch im Jahr 2000, verschärft unsere Umweltbilanz zudem. Ganz zu schweigen von Mikroplastik, das sich weder abbauen noch auf einem anderen Weg aus der Umwelt entfernen lässt. In derartig vielen Waschmitteln und Kosmetikprodukten stecken die mikroskopisch kleinen Kunststoffpartikel, dass es schon einer tief greifenden Veränderung der Einkaufsgewohnheiten bedarf, um sie zu meiden.

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Viele weitere Beispiele, die eine Diskrepanz zwischen Denken und Handeln offenbaren, lassen sich nennen. Nur ein paar: Die Bereitschaft, Biolebensmittel zu kaufen, hat in den vergangenen Jahren sehr, sehr viel stärker zugenommen als ihr tatsächlicher Marktanteil. 70 Prozent der Autofahrer würden ihr Fahrzeug für die Umwelt öfter mal stehen lassen, der Anteil regelmäßiger Radfahrer steigt dennoch nicht. 86 Prozent der Deutschen finden faire Arbeitsbedingungen in der Textilbranche wichtig, zugleich verbucht die Fast-Fashion-Industrie mit unter prekären Bedingungen gefertigten Billigklamotten immer neue Umsatzrekorde.

Wacker ruft das renommierte Zukunftsinstitut zwar schon “das Ende der Fast-Fashion-Ära“ aus und meint, langfristig gehe der Trend “zu nachhaltiger und fairer Mode“ – doch angesichts einiger Jahre, in denen die Missstände in den Produktionsländern nun schon intensiv thematisiert werden, ohne dass dies nennenswerte Auswirkungen auf unser Konsumverhalten gehabt hätte, darf solcher Optimismus in Zweifel gezogen werden.

Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität

Überhaupt scheint unsere Inkonsequenz in Umweltfragen eher nicht in mangelnder Informiertheit begründet zu sein. Im Gegenteil: Kaum eine Woche vergeht gefühlt ohne neue Umweltkampagnen, kaum ein Fernsehabend verstreicht ohne irgendein kritisches Verbrauchermagazin, kaum eine Zeitung kommt heute noch ohne Ökothemen aus. “Die Idee der Nachhaltigkeit ist in der Mitte der Bevölkerung angekommen“, konstatiert das Umweltbundesamt im jüngsten Bericht zum Umweltbewusstsein der Bundesbürger.

Zugleich jedoch machen die Experten Verunsicherung aus, Zweifel, ob sich etwa die aus dem Klimawandel resultierenden Probleme überhaupt bewältigen lassen. Das Problembewusstsein scheint größer als das Zutrauen in Lösungen. Eine Haltung, die eine fatale Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität begünstigen kann – oder zumindest das frustrierende Gefühl der Ohnmacht nährt: Was kann ich als Einzelner schon ausrichten?

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Komplexe Zusammenhänge, begrenzter Verstand

Und jene, die tatsächlich etwas tun, die Shampoo und Duschgel für ein Stück Alepposeife aus ihrem Haushalt verbannen, statt giftig grünem Flüssigwaschmittel indische Waschnüsse verwenden, Stoff- oder Papiertaschen statt Plastiktüten benutzen und die Gemüsekiste vom Biohof nebenan ordern, werden durch immer neue Erkenntnisse verwirrt: Die Herstellung einer ökologisch vermeintlich unbedenklichen Papiertüte ist in etwa doppelt so energieintensiv wie die Produktion ihres Plastikpendants. Wir kaufen derart viele Waschnüsse, dass die Inder verstärkt auf unsere umweltbelastenden Industriewaschmittel ausweichen müssen.

Schweine mit Biosiegel sind nicht zwangsläufig glücklicher als ihre Artgenossen auf konventionellen Höfen, da die Kriterien für biologischen Landbau vor allem auf Umweltverträglichkeit und Schadstofffreiheit zielen, kaum aber auf das Tierwohl. Und das aus Liebe zur Natur teuer bezahlte Hybridauto entpuppt sich in der Ökobilanz doch nicht als vorteilhaft, weil der höheren Ressourcenverbrauch bei der Produktion des Fahrzeugs nicht durch den geringeren CO2-Ausstoß gegenüber reinen Verbrennungsmotoren wettgemacht wird.

So viele Möglichkeiten, das Richtige zu tun und es am Ende doch wieder falsch zu machen. Weil unser Ökosystem so komplex, sein Gleichgewicht so fragil ist – aber unser Verstand zu begrenzt, um sämtliche Konsequenzen unseres Handelns im Lichte dieser filigranen Zusammenhänge vollständig abzuschätzen.

Endliche Ressourcen in Zeiten des Überflusses

Ebenso falsch wie resigniertes Nichtstun wäre es, in seinem Bemühen um einen kleineren ökologischen Fußabdruck nur perfekte Lösungen gelten zu lassen oder jeden, der nicht unverzüglich alles Erdenkliche zur Gesundung der Welt unternimmt, moralisch zu verurteilen. Es wäre wohl eher hilfreich, weniger Zeit auf Haarspaltereien à la “Jute statt Plastik“ zu verschwenden und stattdessen grundsätzliche Haltungen zu hinterfragen: Gehe ich pfleglich mit den mir anvertrauten Dingen um? Beanspruche ich womöglich mehr, als mir zusteht? Nutze ich alle Güter, die durch meine Hände gehen, bestmöglich?

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Antworten auf derartige Fragen könnten die Groß- und Urgroßeltern geben, die von Krieg, Mangel und Wiederaufbau geprägt, noch den tieferen Sinn des Begriffs “wirtschaften“ erfahren haben. Weil in jener Zeit die Endlichkeit der Ressourcen und die daraus erwachsende Pflicht, nichts zu vergeuden, noch nicht vom Überfluss unserer Zeit überlagert war, der uns vorgaukelt, die Güter dieser Erde seien unerschöpflich.

Öfter mal vor die Tür gehen

Gewiss, mit der Not im Nacken fällt die Selbstbeschränkung leicht. Wir hingegen, die schlichte Köstlichkeiten wie “Arme Ritter“ nicht mehr als praktizierte Restverwertung, sondern allenfalls als Retro-Gag auf den Speisekarten schnöseliger Neue-Deutsche-Küche-Lokale kennengelernt haben, müssen uns angesichts überbordender Konsumgelegenheiten zur Bescheidenheit zwingen. Wir sollten lernen, vorausschauend einzukaufen anstatt Lebensmittel verschimmeln zu lassen. Wir sollten Dinge kaufen, die möglichst lange halten, und bereit sein, dafür mehr zu bezahlen. Und wir sollten unsere Klamotten wieder auftragen (so sagte man früher) und lächelnd darüber stehen, wenn andere komisch gucken, weil unser Outfit ein bisschen aus der Mode gekommen ist.

Und wir sollten mal wieder vor die Tür gehen. Um uns durch unmittelbare Anschauung mit dem vertraut zu machen, was wir angeblich schützen und heilen wollen: Der Natur. Denn wenn stimmt, was der “Jugendreport Natur 2016“ konstatiert, hat die Entfremdung zwischen Mensch und Umwelt längst einen kritischen Zustand erreicht.

Der Anteil der Schüler, der glaubt, dass in unseren Wäldern – kein Witz – Bananen und Kokosnüsse wachsen, ist zum Glück noch überschaubar. Der Irrglaube, die Sonne ginge im Norden auf, ist inzwischen hingegen verbreitet – ebenso, wie die Unkenntnis der Tatsache, dass Tag und Nacht infolge der Erddrehung um die Nordsüdachse zustande kommen. Wenn das so weitergeht, steht zu befürchten, dass die Erde irgendwann wieder zur Scheibe mutiert. Spätestens dann nämlich dürfte uns die Rettung der Welt wirklich nicht mehr zuzutrauen sein.

Von Daniel Behrendt

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