Zwei Fahrradtaschen voll Essen für eine Woche – Lebensgeschichten bei der Altenburger Tafel
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Mit vollen Fahrradtaschen macht sich Uli auf den Heimweg. Die Lebensmittel von der Tafel bringen ihn jetzt über die Woche.
© Quelle: Maike Steuer
Altenburg. Jeden Mittwochmorgen schwingt Uli sich in Altenburg-Südost auf seinen Drahtesel. Das Ziel ist immer dasselbe und nur zehn zügig gestrampelte Minuten von seiner Wohnung entfernt: die Altenburger Tafel in der Gabelentzstraße. Als sich deren Tür um 9 Uhr endlich öffnet, stecken ihm bereits fast zwei Stunden Warterei in der Kälte in den Knochen. Dafür ist er heute die Nummer eins und darf sich als Erstes mit vergünstigten Lebensmitteln eindecken. Früher, erzählt Uli, als es in der Ukraine noch friedlich war, sei das nicht so gewesen. Da habe es weder Wartemärkchen noch größere Schlangen gegeben. „Da war ich viertel neun da und das hat immer noch gereicht.“
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Der „Fenchel-Mann“ aus Südost
Doch der 62-Jährige ist nicht der Typ Mensch, der sich beschwert – weder über das Leben an sich noch über die feilgebotenen Waren im Tafelladen. Das schätzen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an ihm, dem „Fenchel-Mann“, wie er hier aufgrund seines Faibles für das aromatische Gemüse gern genannt wird. „Er freut sich über alles. Macht das Beste aus dem, was grad da ist“, nickt Christine Reichwagen anerkennend, während Uli dort steht, wo es so ziemlich jeden Besucher zuerst hinzieht – zu den Kühlschränken hinten rechts in der Ecke. Denn in ihnen lagern die besonderen Leckerbissen: eine bunte Mischung an Molkerei- und Fleischprodukten, die besonders begehrt sind.
Ein wirklich guter Mittwoch
Ein Harzer Käse, eine Packung Leberkäse und Hackepeter landen bei Uli im Korb. Dazu ein paar Schokopuddings, Margarine und Lachs. Er lächelt ob der üppigen Ausbeute, fügt ein Bund Lauchzwiebeln, frischen Blattspinat, Tomaten, ein paar Apfelsinen und Weintrauben hinzu. Acht Brötchen „wie immer“ und eine Packung Eier. Fertig. Ein wirklich guter, dieser Mittwoch, freut sich der „Fenchel-Mann“, auch wenn sich heute keine seiner Lieblingsknollen, die ihm den Spitznamen einbrachten, in den Gemüsekisten findet.
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Bei Mitarbeiterin Christine Reichwagen (r.) erhalten die Kunden ihre Lebensmittel
© Quelle: Maike Steuer
Kulinarisches Grundgerüst für eine Woche
Draußen beim Verstauen in Fahrradtaschen und Beutel bleibt Zeit für einen kleinen Schwank aus dem Leben des einstigen Wismut-Kumpels. „20 Jahre Bergbau hab ich hinter mir“ – und irgendwie auch im Rücken. Wer ihm begegnet, dem ganz in Schwarz gekleideten Mann mit den langen Haaren und dem rockigen Outfit, würde ihn eher für einen Musiker oder Künstler halten. „Überlebenskünstler“, merkt er grinsend an. Seit zweieinhalb Jahren ist seine Gesundheit zu wacklig, um jobtauglich zu sein. Dabei würde er gern wieder in der Pflege arbeiten. Uli zuckt mit den Schultern. „Aber es geht grad nicht.“ Schwer beladen tritt er den Heimweg an, quer durch den Schlosspark den steilen Berg hinauf. Seine kostbare Fracht bildet das kulinarische Grundgerüst für die nächsten sieben Tage.
Selbstgebacken mit Dankbarkeit
Derweil ist die Schlange im Laden nachgerückt, wartet ein aufgeweckter Dreijähriger am Tisch neben dem Einpackbereich ungeduldig auf seine einkaufende Mama – und ein ganzes Blech Schokostreuselkuchen auf die Tafel-Truppe. Eine gebackene Form von Dankbarkeit einer Kundin. „Die Frau mit dem Kuchen“ trägt eine gelbe Daunenjacke und die schwarzen Haare kinnlang. Das Ende ihrer Ehe habe sich finanziell für sie nicht gut ausgewirkt, erzählt sie. „Wie das halt bei vielen Frauen so ist, die in der Beziehung beruflich zurückstecken.“ Entsprechend klein sei nun ihre Rente und die Tafel eine große Erleichterung für das knappe Budget. „Ich wurde hier vor einem Jahr sehr herzlich aufgenommen und komme seitdem ein Mal die Woche her.“ Da sei so ein Kuchen jetzt, da bald Weihnachten vor der Tür stehe, doch das Mindeste.
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Ein ganzes Blech Schokostreuselkuchen als gebackenes Dankeschön für das Tafel-Team.
© Quelle: Maike Steuer
Bedürftigkeit ist keine Frage des Transportmittels
Der „Fenchel-Mann“ und die „Frau mit der gelben Daunenjacke“ – zwei von aktuell 60 bis 90 Menschen pro Tag, die vom Angebot der Altenburger Tafel profitieren. Jeder von ihnen hat sein eigenes „Warum“, das ihn in die Gabelentzstraße führt – zu Fuß, mit dem Bus, auf dem Fahrrad oder auch im in den sozialen Netzwerken monierten „dicken SUV“ mit ukrainischem Kennzeichen. Für Tafelchef Peter Albrecht und sein Team spielt die Art der Anreise jedoch keine Rolle: „Wenn ich vor Krieg flüchten müsste und in der Heimat ein dickes Auto gefahren hätte, würde ich es natürlich auch mitnehmen. Aber macht mich das automatisch weniger bedürftig?“, wirft er in den Raum.
Jedem, der den entsprechenden Hartz-IV-Nachweis vom Arbeitsamt erbringen könne oder seine Bedürftigkeit auf anderem Wege nachweise, stehe die Tafel offen. Auch der Kritik am vor drei Monaten eingeführten Wartemarken-System nimmt Peter Albrecht sich an, ohne es in Frage zu stellen: „Es gab immer wieder Rangeleien vor der Tür, wer zuerst da war. Jetzt, mit den Marken, läuft es besser“, ist er überzeugt. All jene, die die Tafel nutzen wollen, aber körperlich geschwächt seien oder besondere Lebensumstände hätten, würden trotzdem nicht leer ausgehen, versichert er. „Wir machen das schon und finden immer Lösungen.“
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