Mit dem Herzen dabei – eine Mitarbeiterin der Altenburger Tafel erzählt
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Seit 2017 gehört Christine Reichwagen zum Tafel-Team in Altenburg und steht vor allem an der Kasse.
© Quelle: Mario Jahn
Altenburg. Der Wasserkocher faucht. Zum fünften Mal an diesem Vormittag. Doch mit dem kurzen Päuschen bei einer Tasse Tee wird es für Christine Reichwagen wieder nichts. Während im Lager der Altenburger Tafel Fuhre um Fuhre an gespendeten Lebensmitteln eintrudelt und sortiert wird, sorgt die 62-Jährige dafür, dass der Laden läuft. „11, 12 und 13“, ruft sie in diesem Moment nach draußen und verteilt parallel Wartemarken ans aktuelle Ende der Warteschlange. „Noch jemand ohne Fahrschein?“
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Dirigentin im Tafelladen
Sie schließt die Eingangstür wieder und schiebt die beiden Riegel vor. Mehr als drei oder vier Bedürftige gleichzeitig zwischen den eng gestellten Kisten und Regalen würden sich nur gegenseitig auf die Füße treten. Auch wenn das Prozedere den Meisten bekannt ist, die Ungeduld verleitet zum Klopfen. Sie zuckt mit den Schultern. Da verhalte es sich wie mit den Einkaufskörben, die eigentlich nicht auf den Gemüsekisten abgestellt werden sollen und dann doch wieder Tomaten und Paprika quetschen. „Immer dasselbe.“
Ähnlich einem Dirigenten, der seinem Orchester den Takt vorgibt und es zum Klingen bringt, hat die Altenburgerin in „ihrem“ Laden alles im Blick, räumt, kassiert und achtet darauf, dass auch das Bürokratische nicht unter den Kassentisch fällt. Bestimmt, aber immer mit einem Lächeln geht sie ihrer Arbeit nach, die für die dreifache Mama und stolze Oma von fünf Mädels und Jungs weitaus mehr ist, als reiner Gelderwerb.
Viel mehr als nur ein Job
Täglich von 8 bis 14 Uhr im Laden stehen zu können, heißt für Christine Reichwagen, sich selbst zu beweisen, dass sie es noch kann. Dass sie trotz vieler gesundheitlicher Rückschläge körperlich in der Lage ist, aktiv mitzugestalten. Sich einzubringen in ein bunt zusammengewürfeltes Team aus Ehrenamtlichen, Ein-Euro-Jobbern, Strafstündlern und Angestellten. Dass sie ihre Zeit für etwas Sinnstiftendes einsetzen kann, statt zu Hause ihren Mann in den Wahnsinn zu treiben, wie sie lachend erzählt: „Inzwischen ist er Rentner und versteht, warum ich mich immer mit irgendwas beschäftigen musste, damit mir in der Wohnung nicht die Decke auf den Kopf fällt.“
Seit fünf Jahren gibt sie alles
Ihr Wunsch, sich für die Tafel zu engagieren, ist dabei schon deutlich älter als die fünf Jahre, die sie nun mitwirkt. Schon zu Zeiten, als ein Trio aus Tafelmitarbeitern noch regelmäßig die Grundschulen in Windischleuba und Nobitz mit gesundem Frühstück versorgen konnte, weil bis zu 16 und nicht wie aktuell nur acht Köpfe zur Mannschaft gehörten, wäre sie gern dabei gewesen.
Doch erst 2017 erwies sich ein Ein-Euro-Job als ihre Eintrittskarte in den Tafel-Kosmos. Der wurde verlängert, mündete in eine Stelle als Bundesfreiwillige und schließlich in ein festes, wenn auch auf fünf Jahre befristetes Angestelltenverhältnis. Fast drei davon sind inzwischen verstrichen und verlangen Christine Reichwagen je nach Tagesform nicht selten alles ab. „Zu Hause beim Kaffee mit meinem Mann merke ich meist erst, wie erschöpft ich bin. Dann ist nicht mehr viel“, gibt sie zu. Aber deshalb kürzer treten? Nicht mit ihr. „Dann gehe ich halt zeitig ins Bett.“
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Sie halten die Altenburger Tafel am Laufen: Fahrer Heiko Köhler, Fahrer Jens Heiner, Maritta Graupner, Fahrer Hans-Joachim Rieger, Volker Etzold, Christine Reichwagen und Chef Peter Albrecht (v.l.). Nicht im Bild: Ines Bienefeld
© Quelle: Mario Jahn
Sie weiß, wie es ist
Im Laden steht nun ein junger Mann bei ihr an der Kasse, der sich mit reichlich Obst und Gemüse eingedeckt hat. „Das macht der immer. Er lebt sehr gesund“, merkt Reichwagen an – und an ihren Kunden gewandt: „Geht’s deiner Frau gut?“ Wie es den meisten Menschen geht, deren Einkäufe sie tagtäglich abrechnet, weiß sie nur zu gut aus eigener Erfahrung. Von Hartz IV leben zu müssen, sei möglich, sagt sie. Zu zweit seien sie hingekommen, trotz der Versicherungen, die man halt so habe. „Aber viel Luft ist da nicht.“ Deshalb müsse sich auch niemand schämen, der Unterstützung bei der Tafel suche oder sich rechtfertigen, wenn das Budget nicht mehr als fünf Euro hergibt. „Wir finden immer eine Lösung“, versichert sie. „Das hier ist auch nur ein Laden.“
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Weniger kaufen und nichts wegwerfen
Auch wenn sie durch ihren Mindestlohn in Kombi mit der Rente ihres Mannes nicht mehr jeden Cent umdrehen müssen, hat die Arbeit bei der Tafel ihre Einstellung zu Lebensmitteln nachhaltig verändert. „Wir kaufen weniger ein und hauen fast nichts mehr weg. Tauen uns das Brot immer scheibenweise auf oder machen uns eine Gemüsepfanne“, zählt Christine Reichwagen auf. Eine Einstellung, die sie auch an ihre Enkel weitergibt – mit mitunter kalorienreichen Folgen für ihren Mann. „Wenn du den Joghurt aufmachst, isst du den auch auf, hab’ ich letztens zu meiner Enkelin gesagt. Oder du fragst Opa“, erzählt sie lachend.
Wenn sich um 14 Uhr die Türen bis zum nächsten Morgen schließen und Ruhe in der Gabelentzstraße einkehrt, startet Christine Reichwagen am liebsten nicht direkt in den wohl verdienten Feierabend. „Ich gehe gern als Letzte, überprüfe noch mal alles und bin mir dann sicher, dass alles in Ordnung ist.“
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