Kleine Rente, Hartz IV, keine Küche: Wer bei der Tafel im Landkreis Leipzig „einkauft“
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Die Muldentaler Tafel versorgt in ihren fünf Ausgabestellen in Grimma, Colditz, Trebsen, Wurzen und Bad Lausick derzeit fast 1500 Personen. In der Bornaer Ausgabestelle der Leipziger Tafel sind es rund 150 Menschen. Zwei von ihnen verlassen mit ihren Einkäufen hier den Raum.
© Quelle: Jens Paul Taubert
Grimma. Behutsam verstaut Siegfried Lange die Lebensmittel in seiner großen Einkaufstasche: Paprika, Tomaten, Gurke, Milch, Brötchen, Butter, Brot, Wurst, Käse, Milchreis, Joghurt und Gebäck. Der 58-Jährige ist nicht im Supermarkt, sondern bei der Tafel in Grimma auf dem Prophetenberg. „Seit sechs Jahren komme ich einmal in der Woche hierher“, sagt der 58-Jährige.
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Als junger Mann arbeitete er zu DDR-Zeiten im Steinbruch in drei Schichten, „damals hab’ ich gut verdient“. Später ging sein Betrieb pleite. Der Grimmaer war arbeitslos, hatte hin und wieder einen Job, war in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, auch Ein-Euro-Jobs. Er verletzte sich an der Schulter. Jetzt ist er Frührentner. Weil seine Rente gering ist, erhält er einen Bedarfsschein und darf bei der Tafel „einkaufen“ – für pauschal sechs Euro.
Lebensmittel reichen für eine Woche
„Das ist sehr gut für mich. Das reicht hier für eine Woche“, sagt er und zeigt auf die voll gestopfte Einkaufstasche. Nur weniges müsse er dazukaufen. Das Angebot bei der Tafel sei ganz unterschiedlich, „ich nehme, was da ist und verbrauche zu Hause alles“. Die Mitarbeiter kennt er inzwischen gut, „es ist immer freundlich hier, ich komme gerne her“.
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Diese Waren wurden in Supermärkten aussortiert – die Tafel kann sie Bedürftigen anbieten.
© Quelle: Thomas Kube
Siegfried Lange ist einer von knapp 1500 Menschen, die derzeit die fünf Ausgabestellen der Muldentaler Tafel in Grimma, Colditz, Trebsen, Wurzen und Bad Lausick nutzen. Ihre Zahl steigt seit Monaten an. Im Frühjahr noch versorgte dieser Tafelverein etwa 900 Personen.
Hilfe für Menschen mit Behinderung
Dabei kommen nicht alle persönlich zur Ausgabestelle. Der Lebenshilfe-Verein zum Beispiel kümmert sich ambulant um Menschen mit Behinderung, die allein wohnen. „Einige von ihnen leben auf dem Dorf. Sie haben keine Fahrerlaubnis und kein Auto. Sie schaffen es nicht, hierher zu kommen und außerdem wäre der Bus zu teuer“, berichtet eine Lebenshilfe-Mitarbeiterin, die jede Woche mehrere Männer und Frauen mit Tafel-Lebensmitteln versorgt.
Sie macht die notwendige Hilfe an einem Beispiel deutlich: So ist ein junger Mann mit einem Einkommen von 733 Euro gerade in eine eigene Wohnung gezogen. Dort gibt es noch nicht mal eine Küche und eine Couch fürs Wohnzimmer. All dies müsse jetzt organisiert werden.
Spenden fürs Betreute Wohnen
Eine Lebensmittelkiste für sechs Euro würde diesem Mann und den anderen Betroffenen enorm helfen. „Sie freuen sich immer sehr, wenn ich das zu ihnen bringe“, sagt die Mitarbeiterin.
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Viel zu tun haben die Akteure der Tafel in Grimma, zum Beispiel hier in der Ausgabestelle.
© Quelle: Thomas Kube
Auch im Betreuten Wohnen in Grimma werden Menschen mit Spenden von der Tafel versorgt. Ebenso nutzen zahlreiche Geflüchtete aus der Ukraine das Angebot, indem sie mit einem Bescheid vom Ausländeramt einen Bedarfsschein für die Tafel erhalten.
„Das hilft mir mit der kleinen Rente sehr“
Gesundheitliche Beeinträchtigungen sind ein weiterer Grund. Dirk Gust berichtet, dass er wegen psychischer Probleme hin und wieder zwar Gelegenheitsjobs hatte, aber nie länger beschäftigt war. Jetzt erhält er eine Erwerbsminderungsrente.
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Der 41-Jährige nutzt die Tafel schon seit längerer Zeit. Für alle, die wenig Geld haben, sei das eine gute Sache. „Ich hab’ mir das mal ausgerechnet: Hier zahle ich sechs Euro und bekomme Lebensmittel, für die ich im Supermarkt um die 50 Euro bezahlen müsste. Das hilft mir mit der kleinen Rente sehr“, meint er.
Seniorin beklagt hohe Kosten
Eine 89-jährige Seniorin ist ebenfalls schon lange bei der Tafel. „Ich habe 900 Euro Rente. Meine Miete kostet 385 Euro. Dann muss ich ja noch für Heizung und Strom zahlen. Das ist jetzt alles so teuer!“, sagt sie. „Die Preise sind ja überall hochgegangen!“
Früher sei sie regelmäßiger zur Tafel gekommen, jetzt nur noch einmal pro Monat. „Ich kann nicht mehr gut laufen und nicht mehr richtig sehen. Ich habe zwei künstliche Knie und meine Augen sind auch kaputt, der graue Star. Ich muss ein Stück mit dem Bus fahren, das ist alles so anstrengend.“ Aber trotzdem hilft ihr die Tafel auch einmal im Monat, „da kann ich was von meinem bisschen Geld sparen“.
Es drängt sich keiner vor, wenn es darum geht zu erzählen, warum er oder sie zur Tafel kommen. Auch ihre Namen wollen nur wenige nennen, Fotos sind unerwünscht. „Muss ja nicht jeder wissen, dass ich hierher gehen muss“, sagt ein Mann. „Geht keinen was an“, ein anderer. Ein dritter winkt ab und geht schnell weg.
Lebensmittel nicht wegwerfen
Der Begriff Tafel bezeichnet gemeinnützige Hilfsorganisationen, die Lebensmittel, welche im Wirtschaftskreislauf nicht mehr verwendet und ansonsten vernichtet werden würden, an Bedürftige verteilen oder gegen geringes Entgelt abgeben. Die erste deutsche Tafel wurde 1993 in Berlin gegründet. Inzwischen gibt es in der Bundesrepublik 956 Tafeln mit rund 2000 Ausgabestellen, die in der Regel mit ehrenamtlichen Helfern, teilweise auch fest Angestellten, verwertbare Lebensmittel einsammeln, die der Handel oder Hersteller als unverkäuflich aussortierten, so das Online-Lexikon Wikipedia. Dabei handele es sich um Produkte, die kurz vor Ende des Mindesthaltbarkeitsdatums stehen. Des Weiteren enthält das Warenangebot Lebensmittel, die aus Überproduktionen stammen oder deren Verpackung beschädigt ist. Die Menge der gelieferten Waren an die Tafeln (etwa 265 000 Tonnen im Jahr) macht hierbei im Vergleich zur Menge der laut WWF-Studie insgesamt 18 Millionen Tonnen im Müll entsorgten Lebensmittel einen relativ geringen Teil aus, heißt es weiter. Die Idee der Tafeln stammt aus Amerika: 1963 hatte John van Hengel in Phoenix (Arizona) die erste Food Bank gegründet – ein großes Lagerhaus vor allem für längerfristig lagerfähige Lebensmittelspenden.
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