Grimma wird Mitglied im Dorf der Jugend – trotz Widerstands im Stadtrat
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Mit diesem großen und bunten Graffiti-Schriftzug hat sich das Dorf der Jugend den Zorn einer Stadträtin zugezogen.
© Quelle: Frank Schmidt
Grimma. Der Stadtrat von Grimma ist per Beschluss dem „Förderverein für Jugendkultur und Zwischenmenschlichkeit“ als ordentliches Mitglied beigetreten. Die Mitgliedschaft beginnt am 1. Mai und ist mit einer finanziellen Auf- beziehungsweise Zuwendung von jährlich 60 Euro verbunden.
Grundlage war ein entsprechend formuliertes Begehren von Tobias Burdukat gegenüber der Stadtverwaltung. Er ist als Vereinschef quasi eine Art Bürgermeister im "Dorf der Jugend", das mit Sitz in den Mauern der ehemaligen Spitzenfabrik ihr Domizil hat. In Verwaltung und Parlament habe es sofort eine breite Zustimmung gegeben, sagte Grimmas Oberbürgermeister Matthias Berger (parteilos).
Dorfgemeinschaft stellt sich dem Parlament persönlich vor
Allerdings wolle man nicht einfach nur dem Wunsch einer einzelnen Person, gemeint ist Burdukat, entsprechen. „Tobias hat zwar zu vielen Dingen seine eigene Meinung, was sein Recht ist. Aber es geht um eine ganze Gruppe von Jugendlichen, die engagiert und hoch motiviert ist“, betonte Berger.
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Die ehemalige Spitzenfabrik ist heute Dorf der Jugend. Wegen Graffitis auf dem Areal gab es jetzt Knatsch im Stadrat,
© Quelle: Frank Schmidt
Zwischen den Silben offenbaren sich Spannungen im Dorf der Jugend
Damit war unterschwellig herauszuhören, dass es auf verschiedenen Ebenen offenkundig diverse, jedoch nicht näher benannte Diskrepanzen geben muss. Trotzdem: „Tobias hat das Ei gelegt, die Jugendlichen brüten es jetzt aus“, zitierte Berger einen, wie er es sagte, „irgendwo mal gehörten Spruch“. Deshalb würde es der Stadt gut zu Gesicht stehen, wenn sie sich durch die Mitgliedschaft zum Dorf der Jugend bekenne, warb der Rathauschef dafür.
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Tobias Burdukat ist "Bürgermeister" im Dorf der Jugend und hat sogar die "Goldene Henne" ins Dorf geholt. Er ist aber nicht ganz unumstritten.
© Quelle: Frank Schmidt
Gleichwohl fraktionsübergreifend die „kreative Jugendarbeit“ als förderungswürdig gelobt wurde, kam es nicht zum einstimmigen Vereinsbeitritt. Aline Hanschmann (Allianz Stadt und Land Grimma) monierte einen im Dorf der Jugend existierenden Schriftzug, der „Scheiß Deutschland... oder so ähnlich“ lauten würde. Tatsächlich ist auf einer Containerwand, die als Bühnendekoration im Innenhof des Gebäudekomplexes dient, ein großer bunter Graffiti-Schriftzug gesprüht worden. Er lautet: „Kacken ist wichtiger als Deutschland“.
Form der Meinungsäußerung ist im Grimmaer Stadtrat umstritten
Die Jugendlichen selbst rechtfertigten diesen Spruch als „freie Meinungsäußerung im öffentlichen Raum, wo jeder hinschreiben kann, was ihm gerade in den Sinn kommt. Denn es ist das Recht der Jugend, ihre Meinung zu sagen, auch wenn es so eine Meinung ist“, sagte Johanna.
Hantschmann nahm sich das Recht heraus, diese Form der Meinungsäußerung nicht zu akzeptieren und kündige ein Nein zum Beschlussantrag an. Das wiederum verärgerte Steffen Grimm (CDU). „Wie kann man sich denn an so einer Sache hochziehen“, warf er spontan und verärgert ein und vertrat seinerseits die Meinung, dass so etwas „in Deutschland kein Einzelfall“ sei.
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Die ehemalige Spitzenfabrik ist heute das „Dorf der Jugend“, in der es bunt und durchaus auch kontrovers schrill zugeht.
© Quelle: Frank Schmidt
„Ich lehne das aber ab und werde dem Beschluss nicht zustimmen“, blieb Hanschmann im kurz aufgekommenen Tumult hart. „Auch das müssen wir akzeptieren“, nahm Berger den Druck vom Kessel und bat ums parlamentarische Handzeichen. Fazit: Beschluss mehrheitlich gefasst, bei einer Nein-Stimme und einer Enthaltung.
Kommentar: Das Ende der Meinungsfreiheit
Ein Kommentar von Frank Schmidt An welcher Stelle beginnt freie Meinungsäußerung und wo hört sie auf? Sicher mag es da unterschiedliche Auffassungen geben, die je nach Generation unterschiedlich interpretiert werden. Die Youngster im Grimmaer „Dorf der Jugend“ berufen sich auf ihre jugendliche Unbekümmertheit, wenn sie mit einem großen und bunten Graffiti-Spruch aufhorchen lassen: „Kacken ist wichtiger als Deutschland“. Eine lebenserfahrene Stadträtin indes moniert das als Verunglimpfung von Deutschland. Man kann das als eine überzogene Reaktion werten. Muss und sollte man aber nicht, wenn man sich vor Augen führt, wo dieser Spruch platziert ist: nämlich als Dekoration für eine, wenn nicht gar für die Top-Veranstaltungsbühne im Dorf der Jugend. Aber Hallo, witzelt die jugendliche Unbekümmertheit: Das ist doch öffentlicher Raum, wo jeder hinschreiben kann, was ihm gerade in den Sinn kommt. Aber Hallo, kontern ältere Menschen mit mehr Lebenserfahrung: Wohin soll das führen, wenn alle so denken und handeln? So ein Spruch ist schließlich mehr als nur kreativ formulierte Fäkalsprache. Er ist eine Form des Populismus, der, zwischen den Zeilen gelesen, am Rand des demokratischen Abgrunds steht und dringend der Diskussion bedarf. Und zwar generationsübergreifend. Zweifelsfrei gebührt dem Engagement der Jugendlichen in ihrem Dorf der Jugend alle Ehre. Doch es gibt ihnen gleichzeitig nicht das Recht geben, sich mit versteckten und anrüchigen Botschaften zu profilieren. Nein, mit dem besagten Graffiti beginnt nicht die freie Meinungsäußerung, an dieser Stelle hört sie auf.
Von Frank Schmidt
LVZ