Allg. Ortskrankenkasse – wo sich Wurzener den Rücken schruppten
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Die alte Schalterhalle im heutigen AOK-Gebäude Wurzen sieht längst anders aus und kann Sonntag besichtigt werden.
© Quelle: Repro
Wurzen. Allg. Ortskrankenkasse steht in großen Lettern unterm Dach. Gut so, andernfalls hielte der Tourist das Haus mit seiner beschwingt-schwungvollen Fassade wohl eher für ein Palast-Theater. Säulen, Muscheln, Balkon – und im Innern gehen gleich zwei Sonnen auf: Die runden Deckenleuchten sind mit Strahlen aus Stuck versehen. Nicht ohne Grund: Das 1928 errichtete Gebäude war bekannt für seine Luft- und Lichtbäder und seine große Terrasse. Sonnenbaden am Rande des damals eher dunklen Ostviertels.
Erstmals Führungen in Haus
Premiere zum Tag des offenen Denkmals: Am Sonntag, 11 und 13 Uhr, führt Stadtchronist Wolfgang Ebert erstmals durch das Haus. Er planschte dort einst höchstselbst in den Badewannen. Das war zu Zeiten der Wohnungsnot, als die „Krankenkasse“ noch als Bäderabteilung des Krankenhauses firmierte. Für ein paar Pfennige konnten sich ganze Generationen von Wurzenern in den heiligen Hallen den Rücken schruppen. Doktor Norbert Kunze hatte im Obergeschoss seine Arztpraxis und wohnte daneben auch. Nach der Wende übernahm die AOK das Gebäude, sanierte es aufwändig und ist seitdem wieder für ihre 18 000 Kunden da.
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Das denkmalgeschützte AOK-Gebäude in Wurzen am Kreisverkehr an der Torgauer Straße.
© Quelle: Thomas Kube
Diana Kaiser, Leiterin der drei AOK-Filialen in Wurzen, Naunhof und Grimma, arbeitet mit über 30 Mitarbeitern in der hochherrschaftlichen Stadtvilla. An ihrem freien Tag öffnet sie extra für all die Neugierigen, die auf Einladung des Geschichts- und Altstadtvereins erwartet werden. Dessen Vorsitzender, Jürgen Schmidt, wohnte eine Zeit lang in dem Haus. Er nennt vier Gründe, weshalb es sich lohnt, dem Haus an der Torgauer Straße ausgerechnet in diesem Jahr einen Besuch abzustatten. „Wir feiern 2018 vier Jubiläen: Vor 130 Jahren wurde Hermann Paul Mannewitz, Architekt des Hauses, in Wurzen geboren, vor 60 Jahren starb er und fand auf dem Wurzener Friedhof seine letzte Ruhestätte. Vor 90 Jahren wurde die ,Krankenkasse’ fertiggestellt und vor 25 Jahren erstrahlte das rekonstruierte Objekt in neuem Glanz.“
Mannewitz – bekannt in der Region
Baurat, Hochschulprofessor und Freimaurer Mannewitz ist kein Unbekannter in Chemnitz, Leipzig und Umgebung. In seiner Heimatstadt Wurzen projektierte er etwa den Umbau der ehemaligen Infanteriekaserne zum Stadthaus, den Anbau am Südflügel mit Plenarsaal und Treppenhaus, die Friedhofskapelle, das Gebäude der Verbrauchergenossenschaft (heute Liftket), Dresdener Straße 69. Am Hang einer Hochfläche nördlich der Ritzschke-Niederung, dort, wo sich einst Sand- und Schuttgrube befanden, errichtete er die Krankenkasse.
Gäste gelangen auch in die Keller-Katakomben
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Paul Mannewitz, Architekt des eindrucksvollen Gebäudes.
© Quelle: Repro
„Der Boden war entsprechend unsicher“, sagt Ortschronist Ebert. „Also musste Mannewitz das Haus ungewöhnlich tief gründen – entstanden sind dadurch regelrechte Katakomben.“ In dieses Kellersystem, das stufenweise nach unten führt, wird Ebert seine Gäste genauso geleiten wie in die Empfangsetage. Er schwärmt von dem Mix aus Jugendstil, Barock und Klassizismus, von originalen und originalgetreu nachempfundenen Fenstern, Türen und Geländern, von Bögen, Pfeilern und Intarsien. „Vor allem imponiert der sparsame, aber stilsichere Einsatz von Verzierungen, die Orientierung am Heimatschutz-Gedanken, die neue Sachlichkeit.“
Wurzen und seine Baudenkmale: Rathaus, Dom, Museum oder Mühlentürme. In deren Schatten steht bis heute ausgerechnet die „Krankenkasse“, das Haus der vielen Sonnen. Zu unrecht, findet der Geschichts- und Altstadtverein. Zur Führung am Sonntag sind nicht zuletzt auch die Nachfahren des bedeutenden Architekten eingeladen, die noch immer in der Nähe von Wurzen zu Hause sind. Gastgeberin Diana Kaiser bittet um Pünktlichkeit: „Wer zu spät kommt, muss draußen bleiben. Sobald die Führungen beginnen, wird zugeschlossen.“
Infos zu den Veranstaltungen finden Sie hier.
Von Haig Latchinian
LVZ