Clemens Meyer: Leipziger im Arbeitskampf – „Ein Hoch auf den Streik!“
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Schriftsteller Clemens Meyer.
© Quelle: Fredrik Von Erichsen/dpa
Leipzig. Und bevor jetzt alle losschreien, auch ich musste am vergangenen Mittwoch sehr lange durch die Stadt laufen, und zwar von Ost nach West! Leider schneite es nicht und ich konnte mich nicht an zahlreichen Ski-Fahrern erfreuen, die sich durch den Schnee bewegten, als Flachland-Sachse bin ich in meinem Leben nur einmal Ski gefahren, als uns unsere Partnerkirchgemeinde aus Hannover kurz nach der Wende in die Hochalpen einlud. Mit uns meine ich die junge Gemeinde, die Christenlehre, in der wir in der Bibel lasen, Lieder sangen und über Jesus’ Lehren die Welt zu verstehen versuchten, die Bergpredigt ist ja heute noch elementar. „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, da sie die Motten und der Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlen.“
Jedenfalls zerriss meine Hose im Schritt, als ich als Jugendlicher die Hochalpen hinunterfuhr und stürzte, einer meiner Ski wurde meterweit in die Luft geschleudert und traf mich dann am Kopf. Schätze habe ich auch kein angesammelt bis heute und mit dem Glauben hadere ich auch, freue mich aber über jedes Kirchenläuten was ich höre, trete ein voll Andacht. Kirchen sind ja auch Orte der Ruhe, wenn sie nicht, wie im Stadtzentrum, von Touristen überrannt werden, aber auch da war es am Mittwoch seltsam ruhig, die Stadt wirkte beinahe licht ...
„Werde beinahe sentimental“
Ein Hoch auf den Streik! Ich muss zugeben, ich werde beinahe sentimental, wenn gestreikt wird, möchte mich unter die Streikenden gesellen und Lieder wie „If I had a hammer“ anstimmen, denn „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will!“.
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Ich glaube ja manchmal, es wird noch viel zu wenig gestreikt in unserer Stadt. Ich war vor Jahren einmal in New York (beruflich, denn ich reise privat so gut wie nicht), als dort die Müllabfuhr und die Müllarbeiter streikten, man lief durch Gänge aus Müll, wie die riesige Wohnung eines Messie wirkte das, die Ratten sangen nachts in den Straßen. Sollten nicht die, die den Laden am Laufen halten, auch am meisten bekommen, wir reden ja nicht vom Schätze sammeln ... man stelle sich vor, ein leitender Müllarbeiter fährt mit seinem Porsche zur Arbeit, das wäre doch mal was. Das Krankenhauspersonal und die Lehrer und Lehrerinnen fahren zum Ski-Fahren auf die teuersten Pisten, würden sich jedes Jahr einen neuen SUV oder Maybach oder meinetwegen einen umweltfreundlichen Tesla leasen. Kinderbetreuer und Betreuerinnen würden nach Feierabend bei Gucci shoppen. Völlig zu Recht! Oder stimmt da was nicht mit meinen Überlegungen, würde dadurch nur noch die A-Loch-Dichte steigen? Egal, wir sind im Streik-Fieber! „Wacht auf Verdammte dieser Erde / die stets man noch zum hungern zwingt.“ Auch wenn wir mit Sicherheit nicht hungern!
„In Zeitz isses schön ruhig“
Die Mieter sollten doch mal streiken und alle nach Zeitz ziehen (da bin ich derzeit regelmäßig zur Arbeit, da isses schön ruhig, die nächste Kolumne wird ein Zeitz-Text), weil dort der Wohnraum erschwinglich ist, aber das funktioniert ja nicht, wie bei jedem Gefälle rutschen die nächsten schon eifrig nach.
In unserer Leipziger Amazon-Niederlassung wird ja seit Jahrzehnten gestreikt, also muss es ja was bringen! Und wieder stimmen wir ein Lied an! „Wacht auf Verdammte dieser Erde...!“ Hatten wir schon.
Zur Person
Zur Person: Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle, gewann 2008 den Preis der Leipziger Buchmesse für seinen Kurzgeschichtenband „Die Nacht, die Lichter“. Zuvor hatte er durch seinen Debütroman „Als wir träumten“ von sich reden gemacht. Seither beschäftigt(e) sich Clemens Meyer mit Theatertexten, improvisierten Talkformaten, Radioessays, Jahresrückblicken und Drehbüchern für deutsche Kinofilme oder auch die ARD-Fernsehserien „Tatort“ und „Polizeiruf 110“.
Und die vielen Freiberufler können ja gar nicht streiken, wenn sie sich unterbezahlt und steuerlich unverschämt behandelt fühlen. Was soll ich zum Beispiel machen? ---- bestreiken ---- Sätze ----- ? ---- ----- ----? Nee.
Ein Hoch auf die Idealisten, auf die Duldsamen, auf die Unterbezahlten und dennoch Unverzichtbaren.
Der Leipziger Dichter Andreas Reimann (auch er ein Unverzichtbarer), der vor gut einem Monat den Lessing-Preis des Freistaates Sachsen bekam, drückte es in einem Gedicht so aus, und damit wollen wir (für Heute!) leise enden:
Der wasserschnitzer am ufer des sees
wartet und wartet, er wartet aber
geduldig nicht, sondern ergeben.
Bis dass der wirkliche winter kommt.
Dann, eines tags, wenn der wasserschnitzer
selber schon ähnelt dem plötzlich
fassbaren stoff,
dann wird er sich schneiden fischlose blöcke
aus dem gefrorenen see.
Und schnitzen fürder und schnitzen und schnitzen sein großes
zergängliches werk.