Heiterblick #19: Warum Leipzig mediterrane Mediatoren braucht
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© Quelle: RND
Guten Abend, Leipzig!
Kürzlich schrieb mein Kollege Mark Daniel über die zunehmende Mediterranisierung Leipzigs.
Bevor nun erste Wutbürger einen ganz roten Kopf bekommen: Es geht dabei nicht um Menschen, die aus dem Mittelmeerraum zu uns kommen. Sondern eher um deren, nunja: gängige Abendgestaltung, an der wir uns im Zuge des Klimawandels mehr und mehr bedienen.
Mein Kollege Mark hatte bemerkt, dass man in Leipzig sein Feierabendbier immer häufiger auf einem Bordstein sitzend zu sich nimmt. Dass man dort bis in die tiefe Nacht bleibt. Auch eine höhere Sandalen- und Adilettendichte hatte er beobachtet. Und natürlich kurze Hosen.
Sogar die Leipziger Stadtreinigung wollte den „Trend zur Mediterranisierung“ mitgekriegt haben – schob aber gleich ganz unromantisch nach: „Und das bringt Abfälle mit sich“.
Mein Kollege Mark zitierte dann in seinem Text eine Frau, die sich an einer Analyse versuchte, warum wir jetzt alle mehr Mittelmeer wagen. Es gehe gar nicht nur darum, dass es wärmer sei, befand sie: „Die Leute wollen mehr Farbe in einem Leben, von dem sie nicht zuletzt durch die Pandemie wissen, dass es endlich ist und schwerer zu werden droht.“
Was für ein Satz! Südsee-Flair gegen das Memento-mori. Begrenzt ist das Leben, doch unendlich ist das Späti-Bier. Ich rückte vom Schreibtisch weg und blickte an mir herunter. Meine schwarze Hose – 68% Polyester, 29% Viskose, 3% Elasthan – reichte bis knapp über die Knöchel. Darunter: Schwarze Turnschuhe.
Nein, dachte ich. Das Mediterrane ist nicht meins. Jedenfalls nicht täglich. Schließlich benötige ich es ja noch als Kontrast. Wenn ich im Spätsommer nach Italien fahre, dann will ich voller Lust meine lange Hose abstreifen. Ich brauche dieses Ritual, um im Urlaub richtig anzukommen.
Überhaupt scheint es mir einer der lästigsten Nebeneffekte der Klimakatastrophe zu sein, dass man inzwischen ein gutes Jahresdrittel lang völlig würdelos in luftigen oder sogar kurzen Klamotten herumlaufen muss. Dass Anzüge aus den meisten Büros verschwunden sind: geschenkt. Aber müssen sie sofort durch Chinos mit XXL-Knöcheldekolleté oder weiße Jesushemden ersetzt werden?
Nun zu einer Befürchtung. Ich glaube, dass die Mediterranisierung in Leipzig noch völlig falsch verstanden wird. Italiener sind trotz Scirocco doch immer top gekleidet. Und wer schon einmal in Perugia, Palermo oder Triest bis in die tiefe Nacht draußen war, wird bemerkt haben, dass dort anschließend fast jeder anständig seinen Müll zum nächsten Container bringt.
Wahrscheinlich müsste man doch einmal ein paar originale Nacht-Verständige vom Mittelmeer nach Leipzig holen, die uns erklären, wie man sich an heißen Sommerabenden benimmt und dabei auch noch gut aussieht.
Ich verlange hiermit nach eine großzügigen Budget für, ja: mediterrane Mediatoren, die Leipzig durch das nächste Kapitel Klimakrise manövrieren – stilvoll durch die tropische Nacht.
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Alles außer Meer: Die Leipziger Kolonnadenstraße ist schon völlig durchmediterranisiert.
© Quelle: Jonas Dengler
Wo trifft sich Leipzig gerade?
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Nova-Center-Manager Peter Lehnhardt stemmt seit seiner Jugend Gewichte – und nun sich selbst gegen den Niedergang seines Einkaufszentrums.
© Quelle: André Kempner
Ein Geheimtipp, für den ich gerne ein paar verständnislose Kopfschüttler riskiere: Große Einkaufscenter werden in meinem Bekanntenkreis gerade zum absoluten Ausgehtipp. „Shoppingcenter und Iced Coffee, best life, ich sag‘s euch“, schrieb kürzlich eine Freundin auf BeReal. Es gibt dafür ein paar offensichtlich Gründe. Die Center sind gut klimatisiert, also perfekt für einen heißen Sommertag. Sie sind – zum Ungemach ihrer Manager – weniger überfüllt als die Innenstädte. Man bekommt fast alles, in kurzer Zeit. Man unterstützt nicht Amazon. Natürlich liegt die wahre Anziehungskraft noch tiefer. Shoppingcenter sind Sehnsuchtsorte unserer Kindheit. Heute stehen sie aber teilweise leer und kämpfen sichtlich ums Überleben, was ihnen einen morbiden Charme verleiht. Perfekt also für die Leipziger Zielgruppe, die immer am liebsten dort sein will, wo niemand (mehr) ist. Vorletzte Woche habe ich den Centermanager des Nova Eventis getroffen, der ganz offen sagte: „Ein Shopping Center wie dieses würde man heute nicht mehr bauen!“
Fünf Empfehlungen aus LVZ+
- Ein großes Einkaufszentrum würde heute niemand mehr bauen – sagt sogar der Chef des ehemaligen Saale-Parks in Günthersdorf. Weitermachen will er trotzdem. Warum? Und für wen? Ein Besuch.
- Sandro (Name geändert) ist Bürgermeister einer ostdeutschen Kreisstadt und kann monatlich von seinem Gehalt etwa 3.000 Euro zurücklegen. Dennoch glaubt er: In der Politik wird eher zu wenig bezahlt. In der LVZ erklärt er, warum er so denkt.
- Francie Fichtler, 37, arbeitet seit 13 Jahren im La Boum auf der Leipziger Karl-Liebknecht-Straße. Ihrer Stammkundschaft merkt sie an, dass das Geld gerade knapp ist – vor allem am späteren Abend.
- Die gebürtige Ukrainerin Alina Artamina war zum Kriegsausbruch zufällig in Kiew - und harrte dort schließlich vier Monate lang aus. Inzwischen ist sie zurück in Leipzig. Wie geht es ihr?
- Die Gruppe um Lina E. soll ihre Angriffe auf Rechtsextreme gezielt trainiert haben, unter anderem in einer Halle des Fußballvereins BSG Chemie – und in einem ehemaligen Fabrikgebäude in Plagwitz. Was sind das für Orte?
Wortmeldungen: Leipzig, Sachsen, der Osten
- „Ich wohne jetzt schon so lange in Leipzig, ich kann nicht mehr durch Berlin gehen ohne Bekannte zu treffen.“ – Jochen Dreier auf Twitter.
- „Ich habe 25 Jahre meines Lebens in den maroden Planwirtschaften von Sowjetunion und DDR verbracht. Ich kann mich jedoch weder an Appelle zum Kurzduschen, noch an Begrenzungen der Raumtemperatur auf 19 Grad erinnern.“ – André D. Thess, ebenfalls auf Twitter.
- „Maria und Jesus blicken mit Furcht in die Zukunft. Sie sehen dem Kreuztod Christi mit Schrecken entgegen. Ein genauso vorhersehbarer Tod wird auch das Resultat des Klimakollaps sein. Und zwar auf der ganzen Welt.“ – Klima-Aktivistin Maike Grunst, die sich an der „Sixtinischen Madonna“ in Dresden mit Sekundenkleber festklebte.
Zuletzt hat mich interessiert
1987, die Stasi-Spitzenagentin Kleo Straub liquidiert in einem Westberliner Club ihre Zielperson. Kurz darauf wird sie von der Stasi verhaftet, kommt erst nach dem Mauerfall wieder frei und begibt sich auf einen Rachefeldzug. Das alles ist nicht wirklich passiert, sondern wurde sich im Auftrag von Netflix ausgedacht. Entstanden ist die achtteilige, rasend spannende Serie „Kleo“.
Ich liebe ja Food-Videos, aber noch mehr liebe ich Maik Sparwassers Eierrezepte. Bekennender Vokuhila-Träger, zu finden auf Instagram und Tiktok – und: Sachse? Anhaltiner? Irgendwas in die Richtung jedenfalls. Einsteigen am besten mit diesem legendären Senfeier-Rezept. Oder mit seinen Dating-Tipps. So groß.
Schon mal in einer Kneipe einen DDR-Haps-Flip bestellt? Oder zu Hause einen zubereitet? Nein? Vielleicht lieber auch lassen. Antenne Thüringen aus Weimar hat da dieses ganz hervorragende Video ausgegraben und auf Facebook aufgehoben. Bitte, bitte nicht nachmachen.
Vielen Dank fürs Lesen und bis in zwei Wochen,
Dein Josa
Was ist Heiterblick?
Eigentlich ein Leipziger Stadtteil, da oben im Nordosten. Dieser Newsletter handelt nicht von dem Stadtteil, er ist ein Leipzig-Newsletter. Aber ich möchte den Namen des Stadtteils neu beleben, daher borge ich ihn mir. Natürlich nicht, ohne vorher einmal nach Heiterblick gefahren zu sein – und seinen idyllischen Müllberg erklommen zu haben.