Heiterblick #22: Ein schwer verbotenes Thema
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© Quelle: RND
Guten Abend, Leipzig!
Heute ein Thema, von dem man eher selten in der Zeitung liest. Einfach, weil es geschäftsschädigend ist. Andererseits belebt es das Geschäft, wenn man über verbotene Themen schreibt, nicht?
Also, ich war verreist und habe im Urlaub Nachrichten-Detox gemacht. Nicht WhatsApp, sondern richtige Nachrichten. The News. Push-Verbot für die LVZ-App. Kein heute-journal. Nix SPON, ZEIT, FAZ, SZ, oder so.
Eigentlich finde ich das keine gute Idee. Im Gegenteil halte ich es für unsere absolute Pflicht, das Weltgeschehen zu verfolgen. Ich glaube: Wer es nicht tut, läuft Gefahr, bald auf einem ostdeutschen Marktplatz Friedensverhandlungen mit Putin, Knast für Kretschmer, oder ähnlichen Irrsinn zu fordern.
Ich habe es trotzdem getan. Weil ich herausfinden wollte, ob das stimmt, was so viele behaupten: Dass all die schlechten Nachrichten schlechte Laune machen. Bin ich ein glücklicherer Mensch ohne The News?
Ein paar schnelle Erkenntnisse, die man vielleicht nicht in die Zeitung schreiben sollte, weil sie womöglich als Argumente gegen die Zeitung gelesen werden könnten (ich erkläre gleich, warum das nicht stimmt):
- Viele Nachrichten, die einen nicht betreffen, lenken einen trotzdem irrsinnig ab. Allein heute habe ich von Tamponspendern auf Stuttgarter Männertoiletten und Veggie-Zwang in Freiburger Kitas gelesen. Kleine Weltgeschichtsschnipsel, die mir aber in erster Linie das Gefühl geben, ich hätte anstatt ihnen auch etwas ganz Anderes, Besseres, Passenderes konsumieren können, das mich wirklich weiter bringt.
- Ohne Nachrichten kann man für eine Weile in eine zuckerwatteweiche Welt eintauchen. Zumindest kann man so tun. Der eigene Horizont endet dann wieder dort, wo er sich schon in der Steinzeit befand: So weit man eben mit den Augen gucken kann. Und das kann enorm befreiend sein.
- Man kann wieder viele andere Dinge lesen. Ein Roman schärft die Menschenkenntnis. Aber, Moment …
… denn das ist ja alles ganz schön. Und dennoch wäre es so falsch, ganz ohne Nachrichten zu leben. Es ist ignorant, gegenüber den Frauen im Iran, die ihre menschenverachtende Regierung stürzen wollen. Es ist schädlich für unser Zusammenleben, das nur dann funktionieren kann, wenn wir einen gemeinsamen Wissenstand haben – und uns nicht alles irgendwie zusammenreimen (s. ostdeutscher Marktplatz). Mir persönlich geht es auch so, dass ich mich erst so richtig auf der Welt aufgehoben (und zu Hause) fühle, wenn ich weiß, was los ist.
Und so war es mit mir und dem Nachrichten-Detox wie mit einer unerfüllten Liebe: Man weiß, dass man sich miteinander sehr wohl fühlt. Und trotzdem geht es nicht. Darüber muss man nicht traurig sein. Spätestens die nächste britzelig-spannend formulierte Push-Meldung zieht einen wieder in den Bann der Nachrichten.
Nur: Ob man deswegen glücklicher ist? Das wird man vielleicht nie wissen.
Wo trifft sich Leipzig gerade?
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Apache 207 trat am Freitag in der ausverkauften Arena Leipzig auf.
© Quelle: Paul Shady
Es wird kälter, ja. Was aber nicht schlimm sein muss. Immerhin kann man wieder ohne schlechtes Gewissen auf Konzerte, Shows, Performances gehen. Und sich etwa an einer völlig obszönen Feuershow den Körper und das Gemüt wärmen. Wie hier beim Rapper Apache letzten Freitag. Der schaffte es innerhalb weniger Jahre aus seiner Mannheimer Plattenbausiedlung auf die Bühne der Leipziger Arena. Seine Tour musste wegen Corona zweimal verschoben werden. Überhaupt kann man sich in unseren Krisenzeiten glücklich schätzen, wenn ein Konzert überhaupt stattfindet. Reicht der Strom? (Energiekrise), Sind wir danach alle krank? (Pandemie), Kann ich mir das Ticket überhaupt leisten? (Inflation). Ins Konzert gehen heißt heute eben auch, den Krisen zu trotzen.
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Wortmeldungen: Leipzig, Sachsen, der Osten
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- „Bei uns nimmst du keine Arbeit mit nach Hause. Das wär‘ sonst Kidnapping“ – Recht überzeugender Werbeslogan der Hallenser Busbetriebe.
Zuletzt hat mich interessiert
Wolfgang, der Eisengießer, war zweimal wegen „versuchter Republikflucht“ im Gefängnis. Manchmal reicht so ein Satz und ich will sofort mehr, viel mehr wissen. Wem das genauso geht, der sollte sich „Letztes Jahr Titanic“ ansehen. Einen Dokumentarfilm, aufgenommen im Leipzig der letzten DDR-Jahre. Irre gut. Nicht zuletzt wegen Wolfgang – und jetzt gerade in der MDR-Mediathek.
Vielen Dank fürs Lesen und bis in zwei Wochen,
Dein Josa
Was ist Heiterblick?
Eigentlich ein Leipziger Stadtteil, da oben im Nordosten. Dieser Newsletter handelt nicht von dem Stadtteil, er ist ein Leipzig-Newsletter. Aber ich möchte den Namen des Stadtteils neu beleben, daher borge ich ihn mir. Natürlich nicht, ohne vorher einmal nach Heiterblick gefahren zu sein – und seinen idyllischen Müllberg erklommen zu haben.