Heiterblick #23: Die Sache mit den einfachen Antworten
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/SQG4HDCYDNBYRC26ECEZGXHMG4.png)
© Quelle: RND
Guten Abend, Leipzig!
„Dreht doch Nord Stream 2 einfach auf!“, rief der Mann auf der Demonstration. Meine Kollegin erzählte mir davon. Es war auf einem dieser, naja: Wut-Spaziergänge wie es sie montags in ganz Sachsen gibt. Und ich hatte den Mann sofort vor Augen. Nicht, weil ich ihn persönlich kenne. Aber man ist die Leute mit den einfachen Antworten mittlerweile gewohnt. Aufgerissene Augen. Die flache Hand vom Körper gestreckt. „Dreht. Doch. Einfach. Auf!“
Aber natürlich ist das mit der Gaspipeline so eine Sache. Denn Deutschland liefert Waffen; die EU viel Geld an die Ukraine. Wer den Russen jetzt Gas abkauft, fördert den Gegner der Ukraine. Deutschland würde, gewissermaßen, Krieg gegen sich selbst führen.
So einfach ist das also nicht. Aber so ist es oft mit den einfachen Antworten. Atomkraft, ja bitte, aber woher bekommt man neue Brennstäbe, etwa aus Russland? Bedingungsloses Grundeinkommen, okay, aber hat der Kneipeninhaber nicht auch recht, wenn er sagt, dass er dann keine Leute mehr findet?
Wir leben in einer Zeit der multiplen Krisen, heißt es. Was wäre da schöner als eine einfache Antwort auf nur eine Krise? Zur Zeit gibt es daher eine Konjunktur an einfachen Antworten. Der Leipziger Fotograf Felix Adler dokumentiert sie beispielsweise in seiner Fotoreihe „Schildbürger“, für die er auf Demonstrationen nur Protestschilder fotografiert. Ich war überrascht, was für internationale, drängende Fragen dort auf simplen, zornigen Schildern schon in wenigen Wörtern gelöst werden.
Gegen Krisenmüdigkeit helfen einfache Antworten aber nicht. Eher hilft es, sich einmal das Gegenteil dessen anzuhören, was man eh die ganze Zeit glaubt. Wann hat man zum letzten Mal einen Text gelesen, der genau gegen die eigene Meinung argumentiert? Das ist irgendwie aus der Mode gekommen. Kann ich aber sehr empfehlen.
Achja, natürlich sind auch wir Journalisten nicht vor einfachen Antworten sicher. Als letzte Woche Elon Musk Twitter übernahm und als erstes einige Führungskräfte entließ, erlaubten sich zwei Schauspieler einen Scherz: Sie stellten sich mit Kartons voller angeblicher Habseligkeiten vor das Twitter-Hauptquartier und mimten – voller Pathos! – die frisch Gefeuerten. Einige US-Medien fielen darauf rein und führten rührselige Interviews mit den falschen Ex-Mitarbeitern. Einer von ihnen gab sogar an, einen Tesla zu besitzen. Eine Geschichte, ein Bild, das zu perfekt, zu stimmig ist. Die Reporter hätten merken müssen, dass das nicht wahr sein kann.
Auch die Texte des enttarnten Ex-Spiegel-Reporters und Fälschers Claas Relotius lesen sich rückblickend so, als hätte man schon viel früher misstrauisch werden müssen. Etwa, weil andauernd im Hintergrund ein Song läuft, der das Geschehen perfekt auf den Punkt zu bringen scheint.
Eigentlich hilft es immer: Einfach mal für eine Sekunde das Gegenteil annehmen. Und dann weiterschauen.
Wo trifft sich Leipzig gerade?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/64Z46PIAABGTLEDP5V5X3AOBMM.jpeg)
© Quelle: LVZ
Menschen auf der ganzen Welt wickeln gern Essen in Teig ein und nennen es dann eine „regionale Spezialität“. Wareniki, Piroggen, Ravioli, Wan Tan, Dumplings, Kärntner Kasnudeln oder Schwäbische Maultauschen. In der Münzgasse werden seit Anfang August Litauische Kibinai serviert. Und vermutlich würde man sich hier vehement dagegen wehren, in einer Reihe mit primitiven Ravioli genannt zu werden. Die Leipziger Münzgasse, jedenfalls, ist um einen gut besuchten Laden reicher. Vermutlich auch, weil im Kibinas ein eigens in Litauen gerösteter Kaffee angeboten wird.
Café Kibinas, Münzgasse 14, 04107 Leipzig. Geöffnet meistens von 10 bis 19 Uhr, außer mittwochs.
Fünf Empfehlungen aus LVZ+
- Im Bautzner Spree-Hotel sollten in den nächsten Tagen Geflüchtete einziehen, doch dann legten Unbekannte Feuer – auch in anderen Orten ist die Stimmung mittlerweile bedrohlich. Lesen
- Eine Leipzigerin verletzt sich beim Sport die Nase. Daraufhin wird sie jahrelang in der Acquaklinik behandelt und viermal operiert – offenbar unnötig und fehlerhaft. Es ist nicht der erste Fall dieser Art in der Klinik, gegen die jetzt ermittelt wird. Lesen
- Zwei Häuser am Lindenauer Hafen erhielten 2022 den Architekturpreis der Stadt. Trotzdem stehen sie seit Monaten leer. Warum? Die LVZ hat bei den Bauherren gefragt. Lesen
- Karl-Heinz Giese lebt von Hartz IV. Vor einem halben Jahr war die LVZ mit ihm einkaufen. Seither sind die Preise weiter gestiegen. Wie geht es ihm heute? Lesen
- Und: In der neuen Podcast-Episode „LVZ Unsere Story“ erzählt Reporterin Denise Peikert von ihrer Begegnung mit dem Hartz-IV-Empfänger Karl-Heinz Giese. Reicht ihm das Geld in der Krise? Wie kommt er durch den Winter? Anhören
Wortmeldungen: Leipzig, Sachsen, der Osten
- „Eine Freundin wurde vom Doc im Kontext von ADHS-Diagnose gefragt, wie sich Speed bei ihr äußert. Tell me you‘re in Leipzig without telling me (you‘re in Leipzig)“ – @AndereLukas auf Twitter.
- „www.candylove.to“ – Hieß die Plattform, über die der Leipziger Maximilian Schmidt aka Shiny Flakes abermals Drogen im Internet angeboten haben soll – obwohl er bereits einmal dabei erwischt wurde.
- „Der Spiegel hat heute morgen geschrieben, wenn Robert #Habeck heute nach Sachsen fahren würde, könnte das eine sehr unangenehme Reise werden. Dazu kann gemeldet werden: der Tag verlief so ereignislos, wie ein Ministerbesuch eben verlaufen kann. Ja, auch im Osten geht das.“ – @Jana_Hensel auf Twitter.
Zuletzt hat mich interessiert
Noch mal Twitter, aber ganz anders. Der Leipziger Comedian André Herrmann ist gerade mit seinen Eltern im Urlaub. Unter #UmdE (Urlaub mit den Eltern) schreibt er seit Reisebeginn in kleinen Episoden auf, was er dabei erlebt. Das ist deshalb so lustig, weil man sich oft an sich selbst erinnert. Benehmen sich Eltern, ab einem bestimmten Alter, nicht irgendwie alle gleich? Spätestens seit gestern, als Herrmanns Vater am Toten Meer verloren ging, ist man sicher, so schnell keinen Urlaub mit den eigenen Eltern zu machen. Man ist froh, dass Herrmann es tut! Und wünscht sich, dass er die Tage bald noch viel ausführlicher dokumentiert. Am besten als kleines Netflix-Mikrodrama in sechs Folgen.
Vielen Dank fürs Lesen und bis in zwei Wochen,
Dein Josa
Was ist Heiterblick?
Eigentlich ein Leipziger Stadtteil, da oben im Nordosten. Dieser Newsletter handelt nicht von dem Stadtteil, er ist ein Leipzig-Newsletter. Aber ich möchte den Namen des Stadtteils neu beleben, daher borge ich ihn mir. Natürlich nicht, ohne vorher einmal nach Heiterblick gefahren zu sein – und seinen idyllischen Müllberg erklommen zu haben.