Newsletter „Heiterblick“

Heiterblick #28: Warum laufen in Leipzig so viele barfuß?

Guten Abend, Leipzig!

Eine der unbeantworteten aber drängendsten Fragen dieser Stadt lautet: Warum laufen hier so viele barfuß herum? Neulich habe ich wieder jemanden gesehen. Im Regen, der fast Schneeregen war. Ich machte heimlich ein Video (von weit weg, anonym!) und postete das auf Instagram. Und viele antworteten. Das sei wirklich „so ein Leipzig-Ding“, antwortete jemand. „Stimmt, warum machen das hier so viele?“, jemand anderes.

Ja, warum nur?

Als Reporter ist es mein Job, solchen Fragen nachzugehen. Bevor ich aber bald einen professionellen Barfußgeher begleiten und mir alles erklären lassen will, ein paar erste Indizien.

Das erste Indiz ist 130 Jahre alt. Es stammt aus einer Zeitschrift namens „Die Grenzboten“, die von 1841 bis 1922 in Leipzig erschienen ist und ein wichtiger Taktgeber für den literarischen Diskurs im damaligen deutschsprachigen Raum war. In der Ausgabe 52, die im Herbst 1893 erschien, findet sich im Ressort „Maßgebliches und Unmaßgebliches“ ein absolut bemerkenswerter Text:

„Barfuß. So oft ich im Sommer Kinder auf der Straße barfuß laufen sehe, beneide ich sie. Wie strotzen die kleinen drallen Füße unter ihrer Schmutzhülle vor Gesundheit! Da giebt es weder verkrüppelte Zehen, noch eingewachsene Nägel, noch Hühneraugen. Wenn es sich mit unsern gesellschaftlichen Gewohnheiten vertrüge, ich liefe den ganzen Sommer barfuß. Das schicke ich voraus, um nicht der Schwarzseherei geziehen zu werden. Mir fällt es nämlich auf, daß das Barfußlaufen der Kinder in Leipzig diesen Sommer einen Umfang angenommen hat, wie niemals in den letzten Jahren. Die Kinder barfuß in die Schule zu schicken, ist ja streng verboten. Aber während der vierwöchigen Sommerferien haben sie sich eine Güte gethan, und auch nach den Ferien wird es fröhlich fortgesetzt: sowie der Schulranzen abgeworfen ist, werden Schuhe und Strümpfe ausgezogen, und nun gehts „barbs“ hinunter auf die Straße! Und da scheint es denn, als ob auch so manche Mutter, die das früher nicht zugelassen hätte, jetzt nicht mehr so streng in diesem Punkte wäre. Die Straßen sind voll von kleinen Barfüßlern, meist Jungen, aber auch nicht wenig Mädchen, nicht bloß die stilleren Straßen, wo sich die Kinder an schulfreien Nachmittagen und in den Abendstunden in ganzen Scharen tummeln, sondern auch die verkehrsreichen Hauptstraßen mit ihren prunkvollen Schaufenstern. (…) Wie kommt es, dass sich so viele jetzt über die „Anständigkeit“ hinwegsetzen. Ist die Kunde von der Kneippkur auch in diese Kreise gedrungen? Oder lockt der glatte Asphalt, auf dem sich, wenn nicht gerade die Scherben einer Petroleumflasche herumliegen, so hübsch radschlagen und seilhüpfen lässt? Oder nimmt wirklich die Dürftigkeit so zu, dass manche, die sonst nur dem Apotheker aus dem Wege gingen, jetzt auch schon den Schuhmacher zu vermeiden suchen?“

Der Autor oder die Autorin ist leider unbekannt. Aber ich teile die filigrane Mischung aus Empörung, Faszination und großer Nachdenklichkeit. Bevor ich das Thema nun wirklich mit denen bespreche, die Ahnung davon habe, noch ein zweites Indiz. Eines, das eher für Zukunft als für antiquierte Literaturmagazine steht: Was denkt die künstliche Intelligenz von ChatGPT wohl über das Leipziger Barfußgehen? Ich habe sie gefragt, sie antwortete:

„Es ist eine Tradition in Leipzig, die schon seit vielen Jahren andauert: das Barfußlaufen. Warum? Nun, die Leute hier haben eine sehr spezielle Art, wie sie mit den vielen kleinen und großen Herausforderungen in ihrem Leben umgehen. Offenbar haben sie sich entschieden, diese Herausforderungen einfach barfuß anzugehen. Allerdings ist das Barfußlaufen in Leipzig nicht ohne Widersprüche. Auf der einen Seite ist es eine großartige Möglichkeit, sich frei und energiegeladen zu fühlen. Auf der anderen Seite kann es aber auch eine schmerzhafte Erfahrung sein, wenn man über einen scharfen Stein oder eine Glasscherbe tritt. Einige Leipziger empfinden es auch als unangenehm, wenn sie anderen beim Barfußlaufen begegnen. Doch trotz all dieser Widersprüche hat das Barfußlaufen in Leipzig eine lange Tradition. Wenn man Leipziger fragt, warum sie barfuß durch die Stadt laufen, dann werden sie meist sagen, dass es ihnen ein Gefühl von Freiheit gibt. Und das ist vielleicht auch der Grund, warum das Barfußlaufen in Leipzig so beliebt ist. Wir hoffen, dass alle Leipziger, die barfuß durch die Stadt laufen, ihre Füße stets gesund und glücklich halten.“

Ich finde: Wunderschön! Mein Text wird sich vermutlich irgendwo zwischen diesen beiden bewegen. Wer Hinweise, Vermutungen oder gar eigene Erfahrungen zum Barfußgehen hat, darf sich sehr gerne bei mir melden, ich freue mich über jeden Hinweis! (Jetzt ein Mail an mich schicken.)

Ausschnitt aus dem "Grenzboten" von 1983 über das Leipziger Phänomen Barfußgehen.

Ausschnitt aus dem "Grenzboten" von 1983 über das Leipziger Phänomen Barfußgehen.

Wo trifft sich Leipzig gerade?

Das KŸünstlerhaus mit Musikclub und Galerie in der Rolf-Axen-Straße in Leipzig-Plagwitz.

Das KŸünstlerhaus mit Musikclub und Galerie in der Rolf-Axen-Straße in Leipzig-Plagwitz.

Vielleicht kommt manchen dieses Haus bekannt vor. Im Keller befindet sich der Club „Neue Welle“, darüber die ODP Galerie. Jetzt aber soll im Künstlerhaus an der Antonienbrücke in Plagwitz eine Leipziger Legende wiederauferstehen, die noch gar nicht allzu lange beerdigt ist: der Chinabrenner. „Das Feuer der Chinabrenner-Idee brennt weiter, auch wenn die Flammen momentan nicht so hoch schlagen“, sagt dessen Inhaber – und lädt zu einem exklusiven Pop-Up-Dinner während des chinesischen Neujahrsfests Chunjie (26 bis 28. Januar) ein: 18 Gänge gibt es für 98 Euro, Reservierungen werden noch hier entgegengenommen. Wem das zu teuer ist, dem sei die Chinabrenner-Alternative „Zhang“ am Bayrischen Bahnhof ans Herz legen, dort wird ebenfalls Sichuan-Küche serviert. Meine Kollegin Regina Katzer hat kürzlich noch einige weitere chinesische Restaurants getestet.

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Außerdem: Dürfen Klimaschützer Regeln brechen, um ein höheres Ziel zu verfolgen? Bei einer Podiumsrunde diskutieren am 1. Februar Expertinnen und Experten darüber. Leserinnen und Leser der LVZ können beim Talk an der Uni Leipzig dabei sein. Chefredakteurin Hannah Suppa moderiert die Debatte. Anmelden

Wortmeldungen: Leipzig, Sachsen, der Osten

  • „Eigentlich bekommt man jetzt Lust auf eine Schneeballschlacht. Aber dafür sind wir zu alt, oder?“ – die Leipzigerin Hannah Freistedt, 21, angesichts des ersten Schnees des Jahres mit einem ganz schön traurigen, aber vielleicht nicht allzu wahrem Befund.
  • „Fändet ihr es schlimmer für die Liebe nach Berlin oder nach Leipzig zu ziehen?“ – Kuku Schrapnell via Twitter mit einer großen Lebensfrage.
  • „Wenn man permanent an den Tag denkt, an dem man wieder trinken kann, dann hat das etwas Zwanghaftes und ist ein Zeichen für Abhängigkeit“ – die ehemals alkoholabhängige Leipziger Autorin Christine Koschmieder über den „Dry January“.

Vielen Dank fürs Lesen und bis in zwei Wochen,

Dein Josa

Was ist Heiterblick?

Eigentlich ein Leipziger Stadtteil, da oben im Nordosten. Dieser Newsletter handelt nicht von dem Stadtteil, er ist ein Leipzig-Newsletter. Aber ich möchte den Namen des Stadtteils neu beleben, daher borge ich ihn mir. Natürlich nicht, ohne vorher einmal nach Heiterblick gefahren zu sein – und seinen idyllischen Müllberg erklommen zu haben.

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