Newsletter „Heiterblick“

Heiterblick #31: Leipzig wächst – trotzdem ist es Zeit, neu über diese Stadt zu denken

Guten Abend, Leipzig!

Die Arbeit als Lokaljournalist kann stressig sein. Vor allem, weil einem die Stadt immer näher kommt.

Ich habe in den letzten drei Jahren – so lange bin ich bei der LVZ – zum Beispiel über einen Nachbarn recherchiert, der Geschäfte mit Neonazis machte. Ich habe Nachrufe auf die Nachbarskneipe geschrieben. Ich habe kritisch über den Neubau berichtet, der gegenüber von meinem Wohnzimmer entsteht. Manchmal rufe ich bei irgendeiner Pressestelle an und ein alter Bekannter geht ran.

Ich glaube aber: Das hat gar nichts mit meinem Beruf zu tun. Sondern das geht uns allen in Leipzig so. Oder?

In Leipzig leben 624.689 Menschen. Wenn ich die App Bereal öffne, bin ich mir nicht so sicher. Wie kann es sein, dass sich viele meiner Freunde schon kennen, aber nicht über mich? Bereal macht diese Querverbindungen sichtbar.

Kürzlich erzählte mir eine Freundin, dass sie genau deshalb aus Leipzig wegziehe. Es war ihr zu eng geworden. Sie lebt nur in Wien. Dort, sagte sie nun, begegne sie dauernd Leipzigern. Kann man Leipzig überhaupt entkommen? Andere, die schon viel zu lange in Leipzig leben, erzählen dagegen, dass sie genau wegen der Enge hierbleiben. Natürlich! Auch so kann man das sehen.

Es gibt ein hübsches Wort für das Gefühl, dass die Wände immer näher rücken – es lautet Nestwärme. Man hat sich ein Nest gebaut und jetzt wird es so langsam warm. Aber bitte nicht zu warm, sonst wird man lahm, lethargisch und gemütlich. Alles fängt an zu kleben, man muss mal kurz raus, vielleicht für immer. Meine größte Sorge, die ich mir über unser Leipzig mache, ist, dass es den vielen tollen Leuten hier langsam ein bisschen zu wärmlich wird.

Leipzig wird immer kleiner, immer enger. Es ist nicht nur warm hier, es heizt sich allmählich auf. Ist das nur mein Gefühl?

Moment, sagen jetzt manche. Wir wachsen doch noch! Seit diesem Jahr leben mehr Menschen in Leipzig als in Stuttgart. Vorher sind wir an Dortmund vorbeigezogen, Düsseldorf zittert schon. Leipzig, immer noch Schnellstwachsendegroßstadt Deutschlands.

Zeit für noch ein hübsches Wort: der Mandela-Effekt. Der Begriff beschreibt das Phänomen, sich falsch an eine Sache zu erinnern, der man sich absolut sicher war. Offenbar glaubten viele Menschen, dass Nelson Mandela schon längst tot sei, als er noch gar nicht tot war.

Leipzigs Mandela-Effekt ist, dass alle hier glauben, es gäbe um ihre Stadt einen riesigen, unsterblichen Hype. Dass alle über Leipzig reden. Dass alle Welt nach Leipzig ziehen wolle. Dass die New-York-Times von „Hypezig“ schreibe. Das, allerdings, ist inzwischen mehr als zehn Jahre her.

Die, die sich Leipzig aussuchen, sind vor allem Studierende. Einige der größten Neubauprojekte (auch das gegenüber von meinem Wohnzimmer) sind Mikro-Apartments, in die man sich einige Monate lang einmieten kann, bevor man eine Wohnung findet. Manche bleiben aber auch einfach das ganze Studium im Mikroapartment. Und bevor sie sich in der Stadt einleben und etwas gegen die Nestwärme tun, sind sie nach dem Abschluss allermeistens direkt wieder weg, das zeigen Statistiken.

Dass Leipzig die am schnellsten wachsende Großstadt ist, geht den Menschen hier schnell von den Lippen. Aber wer weiß eigentlich, dass Leipzig auch die Stadt mit den meisten offenen Stellen ist? Leipzig wächst, aber niemand bleibt wirklich hier. Niemand bringt mehr so richtig etwas mit, alle nehmen nur. Wann sind Sie zum letzten Mal auf einen Rave, eine Lesung, ein Event gegangen und haben etwas beigetragen? Nein, wir konsumieren nur noch. Wir machen ein Bereal. So war Leipzig, meine ich, eigentlich nicht gedacht. Das sollten wir ändern.

Dieser Text ist eine gekürzte Variante eines Features, das ich für das neue „Freitag ab eins“-Magazin schreiben durfte. Gibt es überall, wo es coole Magazine gibt, zum Beispiel hier.

Darf man auch schon Donnerstagvormittag konsumieren: Die dritte Ausgabe von Leipzigs Stadtmagazin "Freitag ab eins".

Darf man auch schon Donnerstagvormittag konsumieren: Die dritte Ausgabe von Leipzigs Stadtmagazin "Freitag ab eins".

Wo trifft sich Leipzig gerade?

Wie in "Die Discounter": Einkaufen wie damals.

Wie in "Die Discounter": Einkaufen wie damals.

Ihr liebt „Die Discounter“ auch so, oder? Wer nicht. Die neue Staffel wird gerade abgedreht und soll in Richtung Herbst/Winter erscheinen. Aber wo kriegt man heute eigentlich noch diese menschliche, nahbare Supermarkt-Experience? Während immer mehr Einkäufe an der Self-Checkout-Kasse erledigt werden und auf dem sächsischen Land vollautomatische Supermärkte aus dem Boden wachsen, habe ich (und einige Bekannte) einen Ort den alten Schule gefunden. Gleich neben dem „Bayrischen Bahnhof“ befindet sich der „nah & frisch“. Der ist nicht besonders günstig oder gut sortiert. Dafür gibt es nie eine Schlange an der Kasse und immer einen kleinen Schwatz. Wer Einkaufen nicht nur als lästige Pflicht ansieht, muss hier unbedingt hin.

Fünf Empfehlungen aus LVZ+

  1. Als Galeria Kaufhof am 20. September 2001 in Leipzig eröffnete, schenkte das Haus allen Leipzigerinnen, die an diesem Tag Mutter wurden, einen Gutschein. Wer sein Kind gar nach dem Kaufhaus benannte, bekam noch viel mehr. Lesen
  2. Seine Eltern wurden in der DDR enteignet – dennoch will Roland Junghans den alten Propaganda-Schriftzug an seinem Haus in Bad Lausick erhalten. Warum? Lesen
  3. In einem Schkeuditzer Gasthof lebt regelmäßig die DDR auf - mit Trabi-Witzen, Karlsbader Schnitte und Pionier-Halstuch. Das Programm ist jedes Mal ausverkauft. Warum? Ein Besuch
  4. Sie sind aus der Zeit gefallen und versprühen einen ganz eigenen, rauen Charme: die guten, alten Wohngebietskneipen. Wir stellen acht Leipziger Gaststätten vor – jede mit einem speziellen Charakter. Lesen
  5. Die deutsche Spitzengastronomie schaut gespannt auf den 4. April: In Karlsruhe werden die Michelin-Sterne für 2023 verliehen. Bei der festlichen Zeremonie wird auch das Geheimnis gelüftet, ob es neue Sterne für Leipzig gibt. Lesen

Vielen Dank fürs Lesen und bis in zwei Wochen,

Dein Josa


Was ist Heiterblick?

Eigentlich ein Leipziger Stadtteil, da oben im Nordosten. Dieser Newsletter handelt nicht von dem Stadtteil, er ist ein Leipzig-Newsletter. Aber ich möchte den Namen des Stadtteils neu beleben, daher borge ich ihn mir. Natürlich nicht, ohne vorher einmal nach Heiterblick gefahren zu sein – und seinen idyllischen Müllberg erklommen zu haben.

LVZ

Mehr aus Leipzig

 
 
 
 
 

Verwandte Themen

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken