Kinderarmut in Leipzig: Was eine Initiative und die Stadt dagegen unternehmen
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Essensausgabe im Paunsdorfer Jugendtreff „Crazy“: Lilli Czech und Rainer Borst vom Paunsdorf-Center sowie Initiatorin Sonja Golinski und Treffleiter Simon Westendorf (v. l.) teilen Kartoffelsuppe an von Armut betroffene Kinder aus.
© Quelle: André Kempner
Leipzig. Aus den Schüsseln steigt heißer Dunst. Im Offenen Freizeittreff „Crazy“ wird heute Kartoffelsuppe ausgeteilt, und es dauert nicht lange, bis alle Kinder und Jugendlichen am Tisch sitzen. „Wenn es was auf den Teller gibt, ist die Hütte voll“, berichtet Leiter Simon Westendorf. Das hat seinen Grund: Paunsdorf gehört zu den von Armut besonders betroffenen Leipziger Stadtteilen. Ausreichende Mahlzeiten sind hier für manche ein Luxus, den sie in den heimischen Wänden nicht immer bekommen.
Entsprechend groß ist auch diesmal der Andrang. „Mittagessen für Kids“ heißt die Initiative, die die Interessensgemeinschaft Paunsdorf an drei Orten im Quartier anbietet. Dabei sollen Kinder und Jugendliche wechselweise im „Crazy“, im Mitmachgarten „Wirrwuchs“ und im Jugendcafé „Die Brücke“ an das Thema herangeführt werden – indem sie am Besorgen sowie am Vor- und Zubereiten der Lebensmittel beteiligt sind.
Manche Kinder sammeln Leergut
Das Ziel der Initiative: Die Heranwachsenden sollen vor allem gesundes, ausgewogenes Essen kennenlernen. „Es ist kein Geheimnis, dass manche vom Amt unterstützten Familien das fürs Essen vorgesehene Geld für Anderes ausgeben“, berichtet Initiatorin Sonja Golinski vom Quartiersmanagement Paunsdorf. „Manche Kinder bekommen jedenfalls nicht genug. Uns sind einige bekannt, die Leergut sammeln, um es in Brötchen umzusetzen.“
In Leipzig lebt jedes fünfte Kind an der Armutsgrenze. Paunsdorf gehört laut aktuellem Sozialreport Leipzig zu den sechs von 63 Ortsteilen, bei denen 2021 der Anteil der Sozialgeld empfangenden Kinder unter 15 Jahren bei mehr als 30 Prozent lag. In Volksmarsdorf und Grünau-Mitte waren es sogar über 40 Prozent. Der Leipziger Schnitt liegt bei 14,8.
Lage könnte prekärer werden
Im Jahr 2022 könnte die Lage deutlich prekärer werden, denn die Energiekrise trifft besonders Rentner und Geringverdiener. Die Anbieter von „Mittagessen für Kids“ verzeichnen ohnehin schon seit Längerem einen Zuwachs junger Besucherinnen und Besucher. „An normalen Tagen kommen 35 bis 40 junge Leute zu uns“, sagt Maria Wiebecke, die das Kinder- und Jugendcafé „Die Brücke“ leitet. Einmal pro Woche gibt es dort ein Kochangebot, „und dann sind es um die 50.“
Zum gemeinsamen Lernprozess gehören Einkaufen, Vor- und Zubereiten, nicht zuletzt das Kennenlernen von Zutaten. "Eine Frucht wie die Avocado ist ein absoluter Exot." Clemence Paille vom interkulturellen, nachhaltigen Projekt "Wirrwuchs" ergänzt, dass "manche Kinder bei uns zum ersten Mal in ihrem Leben eine Tomate sehen oder eine Paprika. Auch das ist eine erschütternde Folge der Armut".
Vor allem Alleinerziehende betroffen
Ab wann gilt jemand als arm? Die Grenzen gliedert das Statistische Bundesamt 2019 nach Familienkonstellationen. Für Alleinstehende liegt sie bei einem durchschnittlichen Nettoeinkommen von 1074 Euro und darunter, bei Paaren ohne Kinder bei 1611 Euro; haben sie zwei Kinder unter 14 Jahren, liegt die Trennlinie bei 2255 Euro. Bei Alleinerziehenden mit einem Kind unter 14 gelten 1396 Euro. Betroffen sind laut dem Statistischen Bundesamt vor allem Alleinerziehende (41 Prozent), Menschen mit Hauptschul- und fehlendem Berufsabschluss (35 Prozent) sowie mit Migrationshintergrund (29 Prozent).
Angesichts der schwierigen Lage im Leipziger Osten unterstützt das Paunsdorf-Center die Initiative „Mittagsessen für Kids“. Zum gemeinsamen Kochen und Essen Ende der vergangenen Woche kam Centermanager Rainer Borst dazu, um selbst Hand anzulegen – und später einen Gutschein in Höhe von 2400 Euro zu überreichen. „Damit möchten wir den drei beteiligten Kinder- und Jugend-Einrichtungen im Zeitraum eines Jahres ermöglichen, Lebensmittel im Kaufland zu beziehen“, sagt Borst.
Anregung für gesunde Ernährung
Bislang decken „Die Brücke“, „Wirrwuchs“ und „Crazy“ vier von fünf Wochentagen mit Mittagessen ab. Den Verantwortlichen geht es jedoch nicht nur ums Sattmachen – es kommt auch eine Botschafts-Portion hinzu: „Wir möchten Anregungen für eine gesunde Ernährung geben“, erklärt Clémence Pairre.
Im Mitmachgarten „Wirrwuchs“ entsteht zusammen mit Anwohnerinnen und Anwohnern eine Gartenküche, in der selbst angebautes ökologisches Gemüse verarbeitet wird. Das niederschwellige Angebot soll Menschen aus dem sozial benachteiligten Stadtgebiet Zugang zu den Themen Klimaschutz, Nachhaltigkeit und gesundes Essen ermöglichen. Ist das realistisch? „Leicht ist es nicht“, gibt Paille zu, „aber wenn wir nicht daran glauben würden, würden wir das nicht machen.“
Zahlreiche Angebote der Stadt
Möglichkeiten der Unterstützung und Beratung für von Armut Betroffene gibt es in Leipzig nicht wenige. Unter den über 150 Angeboten auf der Seite www.leipzig.de befinden sich 40 Offene Freizeittreffs. Die Stadt verweist zudem auf ihre Schulsozialarbeit sowie ergänzende Leistungen an Kita und Hort, an Möglichkeiten wie Unterhaltsvorschuss und kostenfreie Kitaplätze – "Instrumente, mit denen wir auf Kinderarmut reagieren können".
Eine Formulierung, die indirekt auf das größte Problem von Armut hinweist: dass weder Politik noch Wirtschaft oder Gesellschaft es hinbekommen, sie gar nicht erst entstehen zu lassen.
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