Plötzlich sieht man sie überall: Greta Taubert auf der Spur der weißen Lieferwagen
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Greta Taubert in der Kolonnadenstraße in Leipzig. In ihrem Viertel fühlt sich die Journalistin sowie Autorin besonders wohl und kennt dort fast jede Nachbarin und jeden Nachbarn.
© Quelle: Nora Börding
Leipzig. Es ist an der Zeit, dass wir über weiße Lieferwagen sprechen. Es gibt kaum ein Objekt in der Stadt, das das öffentliche Leben derartig prägt wie die kastenförmigen, farblosen Kraftfahrzeuge. Wie Botenstoffe im urbanen Organismus bewegen sie sich unaufhörlich durch die Adern der Stadt und versorgen uns mit dem Lebensnotwendigen.
Letztens bin ich morgens um neun durch die Innenstadt gelaufen und egal, in welche noch so winzige Gasse ich eingebogen bin, stand dort ein weißer Kastenwagen. Ein VW Crafter mit der serifenlosen Aufschrift: Gaswassernotdienst. Ein Ford Transit für Sanitär, Hygiene, Fußmatten. Ein Mercedes Sprinter mit dem Firmenziel „Straßenunterhaltung“, was aber offensichtlich eher Fugentechnik als Jonglieren meint. Ein Citroën Jumper mit der schnörkeligen Aufschrift „Großwäscherei“.
Wenn man sie bemerkt, dann tauchen sie überall auf
Wenn man einmal damit anfängt, weiße Lieferwagen zu bemerken, tauchen sie plötzlich überall auf. Weiße Lieferwagen sind das Sinnbild der Dienstleistungsgesellschaft.
Hinter ihren Heckscheiben sieht man meist nichts Persönliches wie bei anderen Berufs-Karren. Kein „Ronny on the road“ oder „Opa Bernd“ wie bei großen Lastwagen. Keine Sammlungen aus Stoffwürfeln, Fuchsschwanz und Wunderbaum „Vanille“ am Rückspiegel wie bei vielfahrenden Außendienstmitarbeitenden. In weißen Lieferwagen sieht man meistens Männer in grauer Arbeitskleidung mit vielen Reißverschlüssen und aufgenähten Taschen, die auf Navis starren. Handwerker, Arbeiter, Dienstleister.
Jene Menschen, die ein Leben lang ihren ersten Kaffee im Dunkeln trinken und sich danach der immer gleichen Rotation des örtlichen Dudelfunks aus Nachrichten-Popsongs-Werbung-Flitzerblitzer ergeben. Schon allein dafür gebührt ihnen höchsten Respekt. Plus: ihrer immer notwendigen Arbeit, die diese Menschen leisten, dass Kanäle, Straßen, Haushalte funktionieren.
Zur Person
Greta Taubert, geboren 1983, ist Journalistin und Buchautorin. Die Thüringerin beschäftigt sich intensiv mit Fragen der Nutzung des öffentlichen Raums, der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Im Jahr 2020 porträtierte sie in ihrem Buch „Guten Morgen, du Schöner“ ostdeutsche Männer.
Der weiße Lieferwagen ist die Engelbert-Strauss-Hose des Straßenverkehrs: ein pragmatisches Objekt, um was zu erledigen, dass halt erledigt werden muss. Es ist ein Auto zum Arbeiten, nicht zum Angeben. Einfach ein Ding, mit dem man Sachen oder Menschen von A nach B bringt. Es steht nie lange rum, hat keinen Schnickschnack, der ständig blinkt und tutet. Es hat ja noch nicht mal mehr eine Farbe. Es ist so herrlich neutral, dass es das Gegenteil eines Statusobjekts ist.
Der größte Zeitfresser für die weißen Lieferwagen: die Parkplatzsuche
Mein Vater hat jahrelang in so einer Kiste gesessen und für ein großes Möbelhaus Gardinen ausgeliefert. Seine Vorgesetzten haben ihm immer viel zu viele Aufträge für einen Tag in die Dispo geschrieben, weil ihre Routenberechnung nie den größten Zeitfresser von allen angezeigt hat: die Parkplatzsuche. In den Parklücken standen ja immer die SUVs derer, die sich für 10.000 Euro Gardinen bestellt hatten. Wenn er schnaufend die Leiter, Gardinenstangen und Stoffe von Ferne herbeigeschleppt hat, standen sie schnippisch im Hausmantel in der Tür und monierten, dass er zu spät sei. Dass ausgerechnet Pflegekräfte, Paketboten und Handwerker ihre Autos außerhalb der Stadt parken sollen, finde ich nicht richtig.
Ob der weiße Lieferwagen vielleicht für manche Mitarbeitende vom Ordnungsamt auch mal eine Carte Blanche ist und sie nicht sofort den Strafzettelblock zücken? Weil da arbeitende Menschen drin sitzen? Systemerhalter? Proletarier aller Länder?
Der Fachkräftemangel scheint auch die Lieferwagen-Jobs zu treffen
Auf meinem Lieferwagen-Spaziergang ist mir allerdings etwas Alarmierendes aufgefallen. Vorm Breuninger tuckerte auf penetrante Weise der Dieselmotor eines weißen Mercedes. Über dem Pflaster lag fast schon Smog. Auf seiner Heckklappe stand der Name einer Sicherheitsfirma und mit großen Lettern: „Auf Jobsuche? Bei uns finden Sie was mit Sicherheit!“ Nur ein paar Meter weiter parkte ein weißer VW-Pickup von „L“ mit einem QR-Code und dem Satz „Wir wissen, was du nach der Schule machst“. Ich guckte nach: Risikomanager bei den Stadtwerken. Auch auf den Türen eines Paketlieferdienstes stand die unmissverständliche Aufforderung: „Werde einer von uns“. Der Fachkräftemangel ist in den weißen Lieferwagen angekommen. Werden die Lieferwagen etwa bald aus den Straßen verschwinden – genau wie das, was sie zu uns gebracht haben?
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Als ich am Ende des Spaziergangs wieder in meine kleine Straße einbog, fiel mir ein letzter weißer Transporter auf. Weil er keine Aufschrift hatte, umrundete ich ihn und glotze unverhohlen in die Fenster. Darin sah ich eine selbst eingebaute Küche, ein Hochbett, ein paar Schränke. Und da klingelte es bei mir: der weiße Transporter ist nicht nur ein Auto für die Arbeit – sondern auch für den Ausbruch aus selbiger.
Seit #vanlife und #glamping während der Pandemie zum Massenphänomen wurden, darf man einen schicken VW-Bus oder einen wuchtigen Caravan nur noch an ausgewiesene Camping-Stellplätze stellen. Ein weißer Lieferwagen aber kann alles und überall sein. Er ist frei.