Muss ein freigesprochener Mörder erneut vor Gericht? Elisa Hoven und die schwierige Frage nach Rechtsfrieden
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Lieblingsort: Juristin Elisa Hoven am Schlachtensee in Berlin. Die LVZ-Kolumnistin ist Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig und seit 2020 Richterin am Sächsischen Verfassungsgericht.
© Quelle: Nora Boerding
Leipzig. Der Fall, von dem ich erzählen werde, fordert unser Gerechtigkeitsempfinden ganz besonders heraus. Im Mai wird das Bundesverfassungsgericht darüber verhandeln, ob gegen den mutmaßlichen Vergewaltiger und Mörder eines jungen Mädchens ein Strafverfahren geführt werden darf. Denn: Er wurde schon einmal freigesprochen.
Aber von Anfang an: Im Herbst 1981 wird in der Nähe von Celle ein 17-jähriges Mädchen tot im Wald gefunden. Frederike von Möhlmann wurde auf dem Weg vom Musikunterricht nach Hause vom Fahrrad gezerrt, vergewaltigt und mit einem Messer getötet. Es gibt schnell einen Tatverdächtigen, Ismet H. Ein Jahr später wird er wegen des Mordes an Frederike zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Aber die Beweislage ist dünn, das Urteil wird in der nächsten Instanz aufgehoben, Ismet H. wird freigesprochen.
Zur Person
Professorin Elisa Hoven, geboren 1982, hat seit 2018 den Lehrstuhl für deutsches und ausländisches Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Medienstrafrecht an der Universität Leipzig inne. Seit dem Jahr 2020 ist sie Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof.
Frederikes Vater Hans von Möhlmann gibt nicht auf, den Mörder seiner Tochter zu finden. Der Fall wird wieder aufgerollt. Im Jahr 2012 stellen Ermittler an Frederikes Unterwäsche DNA sicher. Eine Analyse der Spuren war in den Achtzigerjahren noch nicht möglich, jetzt ergibt der Laborbefund: Die Spuren stammen von Ismet H. Hans von Möhlmann ist erleichtert, dass der Mörder seiner Tochter endlich bestraft werden kann. Mord verjährt schließlich nicht. Aber er wird enttäuscht: Das Strafverfahrensrecht erlaubt eine erneute Anklage gegen Ismet H. nicht, Freispruch ist Freispruch. Der mutmaßliche Täter bleibt auf freiem Fuß.
Hans von Möhlmann findet sich damit nicht ab. Er startet eine Petition, um eine Wiederaufnahme möglich zu machen. 180.000 Menschen unterstützen seine Forderung. Im Jahr 2021 überzeugt er die Politik, das Verfahrensrecht wird tatsächlich geändert. Trotz eines Freispruchs soll ein weiteres Verfahren bei schwersten Straftaten wie Mord oder Völkermord jetzt möglich sein, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel eine Verurteilung sehr wahrscheinlich machen.
Ismet H. legt Verfassungsbeschwerde ein
Auf Grundlage des neuen Rechts beantragt die Staatsanwaltschaft Anfang 2022 die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Ismet H., das Gericht in Celle stimmt zu. Doch Ismet H. legt Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Er meint: Das erneute Verfahren gegen ihn verstößt gegen das sogenannte Doppelbestrafungsverbot.
In Artikel 103 unseres Grundgesetzes heißt es im Absatz 3: „Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“ Nun könnte man meinen, dass die Bestimmung den Fall Möhlmann gar nicht betrifft. Schließlich wurde Ismet H. wegen der Ermordung von Frederike ja gerade nicht verurteilt, eine „mehrmalige“ Bestrafung droht ihm also nicht. Aber das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1961 entschieden, dass der Grundgesetzartikel weiter zu verstehen sei. Auch einem rechtskräftig freigesprochenen Täter soll Schutz gegen eine erneute Verfolgung wegen derselben Tat gewährt werden. Ein Strafverfahren wegen derselben Tat ist also auch nach einem Freispruch erst einmal verboten. Ausnahmen sind nur in wenigen Fällen möglich. Etwa dann, wenn der Täter nach seinem Freispruch ein glaubwürdiges Geständnis ablegt. Ismet H. hätte also zum Beispiel kein Buch schreiben dürfen, in dem er sich zum Mord an Frederike bekennt.
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Juristen streiten nun, ob der Gesetzgeber die Ausnahmen für eine Wiederaufnahme erweitern durfte. Völlig fernliegend sind die Bedenken vieler Verfassungsrechtler nicht. In einem Rechtsstaat sollen sich Bürgerinnen und Bürger auf die Beständigkeit gerichtlicher Entscheidungen verlassen dürfen. Für den Angeklagten stellt ein Strafverfahren eine erhebliche Belastung dar. Auch er muss irgendwann darauf vertrauen können, dass der Staat ihn nicht immer wieder mit denselben Vorwürfen konfrontiert. Der Strafprozess ist dafür da, Schuld oder Unschuld abschließend zu klären. Die Anklagebehörden dürfen danach nicht einfach weiter ermitteln und den Betroffenen mit einem zweiten oder dritten Verfahren überziehen.
Die Bedeutung des Rechtsfriedens in der deutschen Prozessordnung hat auch historische Gründe. Die Rechtsprechung im Nationalsozialismus war durch eine besondere Willkür geprägt – und auch der Freispruch verschaffte letztlich keine Freiheit, weil immer ein neues Verfahren drohte.
Das neue Gesetz ist richtig
Aber: Eine gerechte Strafe ist für einen Rechtsstaat ebenfalls unverzichtbar. Kaum jemand würde in einem Staat leben wollen, in dem schwerste Straftaten regelmäßig nicht geahndet werden. Der Staat ist gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen in der Pflicht, Straftaten angemessen zu sanktionieren. Und auch die Gemeinschaft hat ein berechtigtes Interesse daran, dass Verstöße gegen ihre grundlegenden Regeln nicht ohne Folge bleiben. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat das klar gesagt: „Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden.“ (BVerfGE 33, 367, 383). Bei der Wiederaufnahme von Strafverfahren war der Blick aber bislang zu einseitig auf den Schutz von Freigesprochenen gerichtet und hat die berechtigten Strafbedürfnisse bei schwersten Delikten vernachlässigt. Die Abwägung muss anders ausfallen: Liegen neue, gravierende Beweismittel vor, sollten bei schwersten Straftaten die Wahrheitsfindung und die gerechte Bestrafung des Täters dem Schutz des Rechtsfriedens überwiegen.
Das neue Gesetz ist also richtig. Am 24. Mai wird am Bundesverfassungsgericht mündlich verhandelt. Ich hoffe, dass die Richterinnen und Richter das neue Wiederaufnahmerecht nicht beanstanden. Das Recht hat sich dem Rechtsempfinden der meisten Menschen angenähert – und das ist hier ein guter Schritt. Diesen und weitere spannende Fälle, in denen das Recht auf den ersten Blick nicht gerecht erscheinen mag, finden Sie im aktuellen Buch „Strafsachen“.
LVZ-Kolumnistin schreibt Buch über Fälle im Grenzbereich
Ist das deutsche Strafrecht gerecht? So lautet eine der elementaren Fragen unseres Rechtssystems. Die Leipziger Professorin für Strafecht Elisa Hoven und ihr Kölner Kollege Thomas Weigend haben sich an eine Antwort gewagt und zu diesem Thema ein Buch vorgelegt. Es wendet sich nicht vorrangig an Juristen, bietet aber auch Fachleuten spannende Ansätze. „Strafsachen“ heißt der gerade im Dumont-Verlag erschienene Band. Die beiden Autoren erklären in 18 Kapiteln, warum Gerichte gerade so und nicht anders entschieden haben. Dabei handelt es sich stets um Fälle im Grenzbereich. Ein gehbehinderter Rentner wird in seinem Haus von mehreren jungen Männern überfallen. Er wehrt sich und erschießt einen der Täter auf der Flucht. War das Notwehr? Der Onkel missbraucht die Frau seines Neffen. Die Ehe droht daran zu zerbrechen. Der Neffe weiß keinen anderen Ausweg und erschießt seinen Onkel. Mord aus Heimtücke. Doch ist bei der Vorgeschichte eine lebenslange Haft gerecht oder muss die Strafe gemildert werden? Ein zwölfjähriger Vergewaltiger geht straflos aus, weil die Grenze für die Strafbarkeit bei 14 Jahren liegt. Ist das richtig oder muss das Alter für die Strafmündigkeit gesenkt werden? Hoven und Weigend erklären, diskutieren und zeigen Lösungen auf. Wer sich für die Aufarbeitung von Straftaten und Gerichtsentscheidungen interessiert, findet mit dem Buch eine spannende Lektüre, das auch Jurastudierenden bei der Klausur- und Examensvorbereitung auf leichte Weise hilft. Zu jedem Fall sind auch Querverweise zur juristischen Fachliteratur angegeben. mro Elisa Hoven und Thomas Weigend, „Strafsachen – Ist unser Recht wirklich gerecht?“, Dumont-Verlag, 284 Seiten, 23 Euro
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