Riechen wie die Griechen im Antikenmuseum
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Charakterköpfe zum Ertasten: Kustos Hans-Peter Müller im Antikenmuseum. Rechts die Locken des römischen Kaiser Marc Aurel.
© Quelle: André Kempner
Leipzig. Einfach mal die Locken des römischen Kaisers Marc Aurel streicheln. Oder die Sphinx einer antiken Vase ertasten. Kapitell-Formen neoklassischer Architektur erspüren. Und dann auch noch „Riechen wie die Griechen“: Das Antikenmuseum der Universität Leipzig hat rechtzeitig zum Beginn des Louis-Braille-Festival seine Dauerausstellung „Zum Greifen nah“ umgestaltet. Genauer gesagt waren es rund 30 Kunstpädagogik- und sieben Archäologie-Studierende sowie sieben Dozenten, die aus der zuvor etwas angestaubten Sammlung innerhalb des Sommersemesters ein „Museum für alle“ gemacht haben, um „Menschen mit Behinderung kulturelle Teilhabe“ zu ermöglichen. „Es ist für uns eine enorme Bereicherung“, findet Hans-Peter Müller, Kustos des Antikenmuseums.
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„Keine reine Ansammlung mehr von Vitrinen“, ergänzt Kunstpädagogik-Professor Andreas Wendt, „sondern eine Struktur, die allen Museumsbesuchern neue Möglichkeiten bietet, die Ausstellungsstücke zu entdecken“. In kleinen Gefäßen beispielsweise lagern Myrrhe, Weihrauch und Rose, um das olfaktorische Erleben der alten Griechen zu erriechen. Marmor lässt sich in mehreren Bearbeitungsstufen ertasten, vom Rohstoff bis hin zum glatten Stein mit Gravur. Die Werkzeuge eines Steinmetzes liegen griffbereit daneben.
Die Exponate barrierefrei zu präsentieren, ist oft eine Frage von Details: Vertiefungen verhindern, dass jemand ein Replikat allzu schnell umstößt. Charakteristische Parfüm- und Ölgefäße sind vor einem hellen Hintergrund aufgereiht, damit seheingeschränkte Besucher die Umrisse leichter erkennen. Die Motive griechischer Vasen haben einige Studierende mit Moosgummi nachgeformt: eine Eule, ein Löwe, ein Pegasos und eine Sphinx zum Ertasten. Über QR-Codes können sich Besucher Zusatzinformationen auf ihre Tabletcomputer oder Smartphones laden und sich zu einzelnen Ausstellungsstücken Erklärungen anhören oder in die akustische Welt des antiken Athens abtauchen.
Warum Blindheit auch eine Gabe sein kann
Eine Gruppe von Studierenden hat die Geschichte "Herakles auf dem Bordstein" der Leipziger Autorin Juliane Zöllner dreidimensional illustriert. "Was brauchen Blinde? Es war superspannend, sich darüber Gedanken zu machen", sagt die 24-jährige Johanna Bohsung, die im sechsten Semester Kunstpädagogik studiert. Luisa Seiler, ebenfalls 24, hat die Erfahrung gemacht, dass die Grafiken "nicht zu viele Details enthalten und eher keine Überschneidungen aufweisen dürfen". Wie die künftigen Museumsbesucher mussten sich die Studentinnen "herantasten, was möglich ist und was nicht", erklärt die 23-jährige Jolana Pohl.
Für den Archäologen Müller ist es ein wichtiger Teil des Projekts, dass sich die Studierenden schon an der Uni Gedanken darüber machen, wie sich eine inklusive Ausstellung gestalten lässt. „Mit ihren tollen Ideen haben sie einen ganz frischen Wind in unser Haus gebracht.“ Sein Kunstpädagogik-Kollege Wendt findet, dass sie alle zusammen damit „ein Vorbild auch für andere Sammlungen der Uni geschaffen haben“.
Die alten Griechen werteten Blindheit nicht lediglich als Einschränkung, ist in lateinischer und in Braille-Schrift neben einer Büste Homers zu lesen. Sondern auch als Gabe: Die Vorstellungskraft werde reicher, das Bewusstsein gesteigert. Diese Erfahrung können im Antikenmuseum jetzt sogar Sehende machen.
Von Mathias Wöbking
LVZ