„Leipziger Stimme“

Gebaute Herzlosigkeit: Ronya Othmann bezieht Stellung gegen die „Defensiven Architektur“ in Leipzig

Die Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann in ihrem Lieblingsbezirk, dem Leipziger Osten.

Die Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann in ihrem Lieblingsbezirk, dem Leipziger Osten.

Leipzig. Es ist kalt draußen. Und kalt ist nicht gleich kalt. Wir unterscheiden zwischen verschiedenen Formen der Kälte, wir sagen nasskalt, eiskalt, frostig, wir sprechen von beißender, klirrender und schneidender Kälte. Wir fluchen auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Wir ziehen den Schal bis übers Kinn und vergraben unsere Hände in den Manteltaschen.

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Zur Person

Ronya Othmann, geboren 1993 in München, kam mit 20 Jahren nach Leipzig, um hier am Literaturinstitut zu studieren. Im Jahr 2015 erhielt sie den MDR-Literaturpreis für eine Geschichte über eine syrische Emigrantenfamilie, also ganz ähnlich wie ihre eigene. In der LVZ schreibt sie regelmäßig über die Heterogenität von Großstädten wie Leipzig, etwa zu den Themen Integration und Migration.

Die Stadt ist zu dieser Jahreszeit ein unwirtlicher Ort. Eine ganz andere Sache aber ist es, wenn die Stadt nicht nur der Ort ist, den man auf dem Weg zur Arbeit, zum Sport oder mit dem Hund an der Leine mal kurz durchqueren, sondern wenn sie der Ort ist, an dem man leben muss. Wenn man also keine 18 Grad warme Wohnung hat, in die man zurückkehren kann.

„Defensive Architektur“ am Hallischen Tor in Leipzig – wer wollte sich hier hinlegen?

„Defensive Architektur“ am Hallischen Tor in Leipzig – wer wollte sich hier hinlegen?

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Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, haben sich die Stadtplaner was ausgedacht, das den Obdachlosen das Verweilen vollends versaut – und das nennt sich „defensive Architektur“. Das sind Gitter um Fensterbänke, Dornen unter Brücken, Poller auf überdachten Stufen in Hauseingängen, das sind Bänke mit Armlehnen in der Mitte, Einzelsitze aus Metall oder Stein, abschüssige Fläche, aber auch laut schallende klassische Musik an den Eingängen zum Leipziger Hauptbahnhof. „Defensive Architektur“ – man könnte auch sagen: gebaute Herzlosigkeit. Frei nach dem Prinzip „form follows function“. Hier soll also niemand kauern, sitzen, liegen. Doch die Obdachlosen verschwinden nicht, nur weil man sie vertreibt.

Verschwinden lassen, was man nicht sehen will

Schaut man sich den Begriff „Defensive Architektur“ noch einmal genauer an, ähnelt er all den Pollern, Zäunen und Gittern, der laut schallenden Musik. Auf den ersten Blick kommt er ganz harmlos daher. Doch sieht man genauer hin, sagt er sehr viel Häßliches über die Gesellschaft, die ihn hervorbringt. Anstatt Obdachlosigkeit zu überwinden, die Beratungs- und Hilfsangebote auszubauen, mehr in Projekte wie Housing First („Erst die Wohnung, dann alles andere“) zu investieren, will man verschwinden lassen, was man nicht sehen will. Vielleicht, weil es einen daran erinnert, dass auch diese Menschen einmal eine bürgerliche Existenz hatten mit Familie, Job und Haustier und nur ein wenig mehr Pech hatten als man selbst. Eine Verkettung von unglücklichen Umständen – die Trennung, die psychische Krankheit, der Jobverlust, die falschen Freunde, und so kam eins zum anderen. Vielleicht aber auch, weil man Obdachlose verachtet. Weil man Sucht nicht als Krankheit ansieht, sondern als Mangel an Disziplin. Weil man ihnen Attribute wie Faulheit und Straffälligkeit zuschreibt.

Karl-Heinz Teichmann – von einem Neonazi brutal verprügelt

Obdachlosenfeindlichkeit ist übrigens auch eine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, und sie ist Bestandteil rechtsextremer Ideologien. Im Nationalsozialismus wurden Obdachlose im Namen der „Rassenhygiene“ als „Asoziale“ zwangssterilisiert, in Konzentrationslager gesperrt und ermordet. Auch heute sterben noch Obdachlose durch Neonazis. Etwa der 59-jährige Leipziger Karl-Heinz Teichmann, der 2008 am Schwanenteich von einem Neonazi so brutal verprügelt wurde, dass er zwei Wochen später im Krankenhaus starb.

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Seit 1989 hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe 276 Fälle dokumentiert, in denen Obdachlose von Nicht-Wohnungslosen getötet wurden. Die Dunkelziffer dürfte höher sein. Und damit sind noch nicht einmal all die Diebstähle, Körperverletzungen und Beleidigungen mitgezählt, denen Obdachlose täglich ausgesetzt sind.

Das Leben auf der Straße ist hart. Gerade jetzt, wo der Winter einbricht; wo wir unsere Mütze über die Stirn ziehen, den Schal übers Kinn und froh sind, nach einem zehnminütigen Fußweg vom Supermarkt wieder in der warmen Wohnung zu sein. Und wir sollten uns fragen, ob das wirklich sein muss, die Poller unter der Brücke, die Dornen auf der Fensterbank, die laut schallende Musik am Hauptbahnhof. Und was da mit uns los ist, dass wir den Obdachlosen nicht einmal ein halbwegs trockenes Fleckchen gönnen; eine Bank, auf der man sich ausstrecken kann – geschweige denn ein kleines bisschen Würde. Und ob soziale Kälte nicht die schlimmste Kälte ist.

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