Tage des Künstlerhauses Nikolaistraße sind gezählt
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Das Harmelinhaus in der Nikolaistraße 57-59 wird saniert und zu einem Hotel umgebaut.
© Quelle: Kempner
Leipzig. Knapp 30 Jahre hat es die Wende überdauert. Nun wird eines der letzten, noch unsanierten Häuser in der Innenstadt in Angriff genommen – das Harmelinhaus. Gegenüber vom Hauptbahnhof, in der Nikolaistraße 57/59 gelegen, ist es das Eingangstor zur City. Dass es nun endlich herausgeputzt wird, finden alle in Ordnung – auch die Künstler und Medienschaffenden, die in dem Gebäude bislang alle Freiheiten hatten. Allerdings bedeutet dies auch das Ende für das Künstlerhaus. Die ersten Mieter haben ihre Kündigung zum 30. April erhalten.
Filmpartys auf dem Dach
Mehrere Maler, Redaktionsbüros, ein Schriftsteller und Regisseur, ein Fotograf, eine Stadtführungs-Agentur, eine Webdesignerin, der Verein Industriekultur oder der Deutsch-Spanische Freundschaftsverein haben das Haus Nikolaistraße 57 bisher zu einem Kreativ-Zentrum gemacht. "Hier war alles möglich, man hätte vom Tag der offenen Tür bis zu Lesungen noch viel mehr draus machen können", schwärmt Schriftsteller Christian von Aster (45). Gern erinnert er sich an Filmpartys mit Beamer auf dem Flur oder auf dem Dach. "Hier konnte ich nachts die Musik so laut machen, wie ich wollte, keinen hat es gestört", ergänzt Fotograf Corwin von Kuhwede (39). Das morbide Haus bot ihm oft genug selbst die Kulisse für Fotoshootings: Im Aufzug, im endlosen Kellergang mit den offenen Türen links und rechts oder auf dem Dach fand er faszinierende Motive. Das Allerbeste für die langjährig im Haus ansässigen Künstler war allerdings, dass sie nur minimale Miete zahlen mussten.
Auszug bis Ende April
Das ändert sich jetzt. Lärmend werden bereits die oberen Etagen entkernt, damit dort die Bauleitung einziehen kann. Die Mieter der Nikolaistraße 57 haben Ende Januar die Kündigung zum 30. April erhalten. Sie müssen sich neue Räume suchen. „Einfach ist das nicht. Als freischaffender Künstler ist man nicht der beliebteste Mietinteressent“, bedauert Christian von Aster, Schriftsteller, Regisseur und Gründer zweier Lesebühnen. So kurz vor der Buchmesse hat er für Ateliersuche und Umzug eigentlich gar keine Zeit. In der Innenstadt würde er bleiben, auch Atelier und Wohnung zusammenlegen – Hauptsache, er kann die Kosten klein halten. Doch kleine Räume sind rar, und große Räume sind teuer. Von Aster plant zwei Auszugspartys, bei denen die Gäste sich aus seinem Sammelsurium an Filmausstattungs-Gegenständen etwas aussuchen und gegen ein „Hutgeld“ mitnehmen dürfen. In ein paar Jahren will er ohnehin in die Schweiz weiterziehen.
Neu im Wohnblog:Hausbesuch bei Akt-Fotograf Corwin von Kuhwede im Harmelin-Haus
Fotograf Corwin von Kuhwede trauert seinem Atelier unterm Dach nicht nach. Im Sommer hatte er dort 40 Grad und „unaushaltbare Hitze“, sodass er sich in andere Ateliers einmieten musste. Die Toilette befindet sich auf halber Treppe – so blieb das alte Haus lange Zeit sich selbst überlassen. Nach elf Jahren freut sich der Bildkünstler nun auf Neues, auf die Veränderung, die ihm neue Möglichkeiten bringt. Nur diese neuen Räume erst mal zu finden, macht ihm gegenwärtig etwas Sorge. „Am liebsten würde ich mit einem Investor zusammen ein komplett leerstehendes Haus kaufen und ein eigenes Atelierhaus eröffnen.“ In der Innenstadt ist ihm eh mittlerweile zu laut.
Noch zwei Hotels für Leipzig
In ein Künstlerhaus zu ziehen – über diese Option denkt auch Webdesignerin Susanne Müller nach. Seit acht Jahren arbeitet sie in der Nikolaistraße 57, gerade weil sie kunstinteressiert ist und die Nachbarschaft anderer Künstler genießt. „Schade, dass solche Kleinode verschwinden. Gibt es nicht schon genug Hotels in Leipzig?“, fragt sich die 53-Jährige.
Denn nachdem das Harmelin-Haus verkauft worden ist, soll es jetzt zu einem Hotel umgebaut werden. Die Baulücke auf der Rückseite, bisher als Interims-Parkplatz genutzt, wird dabei mit geschlossen – und ebenfalls mit einem Hotel bebaut. Der künftige Betreiber Amano Group kündigt an, den Neubau "bis spätestens 2021" in der Boomtown Leipzig zu eröffnen.
Noch ein bisschen Schonfrist haben die Mieter im Eckhaus Nikolaistraße 59. "Bisher haben wir noch keine Kündigung erhalten. Aber wir sind schon dran an neuen Räumen", sagt Thomas Dieckmann, Kurator der Ausstellung "Kriminalmuseum des Mittelalters". Auch die Erlebnisräume der "Adventure Rooms" sind noch nicht gekündigt worden. Was mit den Läden im Erdgeschoss wird, ist derzeit unklar. Der Betreiber des italienischen Restaurants in Nummer 57 hat ebenfalls noch keine Kündigung erhalten und beruft sich auf seinen langjährigen Mietvertrag.
Verkauf und Umbau
Das denkmalgeschütze, mit Erkern und Reliefs geschmückte imposante Geschäftshaus hatte den in London lebenden Nachfahren der Leipziger Rauchwarenhändler-Dynastie Harmelin gehört. Es war 1913/1914 für die jüdische Kaufmannsfamilie gebaut worden und gehörte zum Ensemble von Krafts Rauchwarenhof, dem größten der Leipziger Pelzhöfe.
Schon kurz nach der Wende gab es Pläne, die Baulücke zwischen Brühl und Richard-Wagner-Straße durch eine Passage zu schließen. Dafür fand sich jedoch kein Investor. 2018 verkauften die Harmelinschen Erben das Haus samt Freifläche an das Berliner Immobilienunternehmen S&R, das im vergangenen Herbst seine Sanierungs- und Hotelbau-Pläne bekannt gab.
Von Kerstin Decker