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Küchentisch-Tour

„Unser größter Gegner ist die Angst“

Sachsens SPD-Vorsitzender Martin Dulig (2.v.l.) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (vorn rechts)  debattieren am Küchentisch im „Anker“ mit Leipziger Bürgern über so große Tehmen wie Bildung, Zuwanderung und Vertrauen in die Politik.

Sachsens SPD-Vorsitzender Martin Dulig (2.v.l.) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (vorn rechts) debattieren am Küchentisch im „Anker“ mit Leipziger Bürgern über so große Tehmen wie Bildung, Zuwanderung und Vertrauen in die Politik.

Leipzig. Am Küchentisch finden bekanntlich nicht nur die besten Gespräche statt. Hier wird vor allem auch Tacheles geredet. Ein Grund, warum Sachsens SPD-Chef und Wirtschaftsminister Martin Dulig seit drei Jahren mit seinem Küchentisch durchs Land tourt. In Zeiten, in denen viele Bürger ihr Vertrauen in die Politik verloren und langjährige Parteienpräferenzen über Bord geworfen haben, will der Sozialdemokrat auf Augenhöhe mit den Menschen reden. Gestern Abend stellte er seinen Küchentisch im Stadtteilzentrum Anker in Möckern auf. 180 Menschen kamen und nutzen die Gelegenheit, mit Dulig und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) darüber zu sprechen, was sie bewegt.

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Einer der Ersten, die sich zu den beiden prominenten Politikern mit an den Tisch setzen, war Wolfgang Dinter. SPD-Wähler, genau wie es seine Eltern schon waren. Doch mittlerweile hadert der Rentner mit seiner SPD. Die Partei, sagte er, müsse dahin zurück, wo sie bei Willy Brandt und Herbert Wehner einst stand. „Das waren gute Zeiten, das war meine SPD.“ Für Dinter gibt es nur einen Weg aus der Glaubwürdigkeitskrise herauszukommen, die die Sozialdemokratie in die zunehmende Bedeutungslosigkeit treibt. „Ich wünsche mir den sofortigen Austritt aus der Regierung“, forderte er in Richtung Scholz. Doch der hielt entgegen, dass zwei Drittel der SPD-Mitglieder den Eintritt in die Bundesregierung schließlich gewollt hätten. Dieses Votum gelte es zu respektieren. Aber interner Streit und die „Selbstbefassung der Politik mit sich selbst“ müsse aufhören. Er erinnerte an den Mindestlohn, den die SPD in der vorherigen Regierung durchgesetzt hatte. Der müsse weiter angepasst werden. Und zwar so, dass man im Alter dann nicht auf öffentliche Hilfe angewiesen ist. Dass die SPD mit diesem Plan noch nicht weiter vorgedrungen sei, lastete Scholz dem „Seehoferismus“ an.

„Wir machen viele gute Sachen, aber die werden nicht wahrgenommen“, bekräftigte Dulig. Viele Menschen wüssten deshalb nicht mehr, wofür die SPD stehe. Dabei seien die alten Werte der Sozialdemokratie – Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit – moderner denn je. Die Gesellschaft stecke in tiefgreifenden Veränderungsprozessen, etwa in der Arbeitswelt, hervorgerufen durch das rasante Fortschreiten der Digitalisierung. Hier müsse die Sozialdemokratie Antworten geben. „Es reicht nicht, über SPD erneuern zu reden“, sagte Dulig. Die Politik müsse greifbarer und für die Bürger erlebbarer werden, „Wir müssen viel stärker an der Lebenswirklichkeit der Menschen ansetzen“, so der sächsische SPD-Chef.

Auch das eine Lebenswirklichkeit: Karsten Heine, Präsident des Leipziger Rugby Clubs, berichtete am Beispiel eines südafrikanischen Spielers, wie schwierig Zuwanderung nach Deutschland noch immer ist. Dabei fehlten überall im Land Fachkräfte. „Es liegen so viele Steine im Weg“, beklagte er und wünschte sich allgemein verbindliche Regelungen anstelle von Ausnahmen, die bei dem einen mal gemacht würden und bei dem anderen nicht. Die Regierung, erwiderte Scholz, habe bereits reagiert, um die Zuwanderung auch von außerhalb der EU zu steuern. Nur eine Grundregel müsse gelten: „Klar ist immer, das soll eine Zuwanderung sein, die mit einem Arbeitsplatz verbunden ist.“ Die Regelung sei auf Drängen der SPD in der Koalition vereinbart. Scholz: „Dazu gibt es Eckpunkte, demnächst auch ein Gesetz, und dann hoffe ich, dass das besser wird.“ Er warnte jedoch davor, Asyl und Zuwanderung zu vermischen.

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Ein viel diskutiertes Thema auch an diese Abend war die Bildung. Für Matthias Ulrich von der Delitzscher Bürgerinitiative Menschenskinder setzt die Bundespolitik die falsche Prioritäten. „Wir geben 38 Milliarden Euro jedes Jahr für Rüstung aus, aber unsere Kinder kriegen nur 5,5 Milliarden in drei Jahren.“ Eltern zahlten immer mehr für die Betreuung ihrer Kinder. Das könne so nicht weitergehen. Den Kommunen jedoch allein mehr Geld zu geben, schütze Eltern am Ende auch nicht vor weiter steigenden Kita-Beiträgen, so Dulig. „Wir brauchen im sächsischen Kita-Gesetz die Deckelung der Elternbeiträge.“

Auch der kleine Bruno aus der Nachbarschaftsschule in Lindenau schrieb den Politiker etwas ins Stammbuch. An seiner Schule müssten sich Kinder zum Teil einen Stuhl teilen. Grund ist der Lehrermangel. „Unsere Vertretungsliste ist teilweise drei Seiten lang“, berichtete der Sechstklässler. Dass nun Quereinsteiger an die Schulen verpflichtet würden, sei nur eine Notlösung, sagte Dulig. Eigentlich sei es „peinlich und beschämend“. Die Wahrheit sei aber auch: „Es gibt leider keine schnelle Antwort.“ Denn die Lehrer müssten erst ausgebildet werden – und dafür habe die Landesregierung inzwischen die Weichen stellt.

Warum, fragte schließlich eine Besucherin, soll man denn nur 2019 die SPD wählen? Die SPD, so Dulig, sei immer dann erfolgreich gewesen, wenn sie Gerechtigkeit und Fortschritt zusammengebracht hat. „Der größte politische Gegner, den wir haben, ist nicht die CDU, ist nicht die Linke, auch nicht die AfD“, sagte er, „sondern die Angst.“ Die SPD könne nur dann mit Zuversicht in die nächsten Wahlen gehen, „wenn wir sagen, wie wir dieses Land gerechter machen wollen.“ An diese Stelle wurde der Landeschef konkret. Ein Flächentarifvertrag für die Pflegeberufe, die Einführung der Gemeinschaftsschule und Mobilität – das sind seine drei großen Themen. Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist für viele Menschen aufgrund seiner dezentralen Strukturen und hohen Preise unattraktiv. Das zu ändern, will Dulig nicht länger warten. „Deshalb habe ich heute eine Kampfansage gemacht“, erklärte der Wirtschaftsminister. „Ich werde eine Landesverkehrsgesellschaft gründen und so die Zuständigkeit der Kommunen für den ÖPNV schrittweise reduzieren.“

Von Klaus Staeubert

LVZ

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