„Ohne meine Familie hätte ich es nicht geschafft“
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„Ohne meine Familie hätte ich es nicht geschafft“, sagt Ute Friedrich. Hund Yano gehört dazu.
© Quelle: Sven Bartsch
Zunschwitz. „Ich habe Blumen geholt. Wir waren auf einen Geburtstag eingeladen. Eine Grußkarte wollte ich auch noch kaufen.“ Damals ist Ute Friedrich 33 Jahre alt. Ihre Tochter gerade zehn. Die Familie lebt in Zunschwitz in der Gemeinde Zschaitz-Ottewig. Um zu dem Geschäft zu kommen, in dem sie die Karte kaufen möchte, muss sie den Fußweg in der Dresdner Straße in Ostrau entlang gehen. Auf der Straße laufen zu dieser Zeit Bauarbeiten. Einziger Zugang zu Optiker, Blumengeschäft und Friseur im Ostrauer Geschäftshaus ist der Fußweg. Durch zwei eingebrochene Pflasterreihen entstand ein Absatz, eine Gefahrenquelle. Plötzlich knickt Ute Friedrich mit dem linken Fuß um. Außen- und Innenbänder des linken Sprunggelenkes reißen, der Knochen splittert.
Versicherung lehnt Schadensersatz ab
Das war’s. Das war der Moment. Ganz banal. Doch das Leben von Ute Friedrich war von diesem Zeitpunkt an ein völlig anderes. Was folgte waren Schmerzen, ein Fuß, der immer weiter anschwoll, ratlose Ärzte, Krankenhausaufenthalte, OPs, ein zäher Kampf mit Versicherungen, der Gemeinde. Dazwischen immer wieder Hoffnung, Ungläubigkeit, Verzweiflung. Ein Versicherungsgutachten attestierte ihr schließlich, sie hätte sich beim Laufen an die gegebenen Umstände anpassen müssen. Kurzum: Die Versicherung lehnte einen Schadenersatz ab, denn man könne schließlich sehen, dass es auf dem Fußweg holprig war. Finanziell hat sie keinerlei Ansprüche.
Sie sitzt im Erdgeschoss fest
Für Ute Friedrich war das wie ein Schlag ins Gesicht. Und es sollte unmittelbaren Einfluss auf all das haben, was seitdem passiert ist. Die Krankenkasse übernimmt nur das Nötigste und selbst das muss sich Ute Friedrich erkämpfen. Auf ein Sitzkissen für ihren Rollstuhl, damit sie überhaupt erst damit fahren kann, wartet sie Monate. Der Zuschuss für einen so dringend benötigten Treppenlift beträgt 4000 Euro. Mehr als das dreifache ist nötig.
Denn damit sie hier leben kann, so wie sie es schon immer getan hat, benötigt sie einen Treppenlift. Sie schafft es nicht mehr ins obere Stockwerk. Dort, wo ihr Arbeitszimmer ist genauso wie das Schlafzimmer von ihr und ihrem Mann. Wie es Ute Friedrich bisher nach oben geschafft hat? Sie hat sich auf die Treppe gesetzt und mit dem gesunden Bein nach oben geschoben. Treppenstufe für Treppenstufe. Jetzt, wo das nicht mehr geht, sitzt sie im Erdgeschoss fest. Ihr Mann ist es, der ihr Aktenordner, die Wintersachen, Handtücher von oben nach unten holt. Er macht das gern, das weiß sie. Aber es nimmt ihr ein Stück Selbstständigkeit. Mit jeder Bitte, mit jedem Fragen.
Hüpfend zum Fahrersitz
Bis vor wenigen Wochen war Ute Friedrich oft unterwegs, immer auf Achse. Wege erledigen, Arztbesuche, in die Bibliothek oder zum Verein. Um von A nach B zu kommen, musste sie niemanden fragen. Sie setzte sich ins Auto und fuhr los. Heute sieht das anders aus. Sie muss fragen, sich durch die Gegend fahren lassen. Ihr Bein, dass die 55-Jährige bisher durchs Leben getragen hat, schafft es nicht mehr. „Ich habe meinen Rollstuhl in den Kofferraum geladen und bin dann auf einem Bein hüpfend zum Fahrersitz gekommen. Jetzt kann ich mein Bein nicht mehr belasten. Hüpfen geht nicht mehr. Und anders komm ich nicht nach vorn.“ Ihre Stimme bricht.
Doch das Geld für einen rollstuhlgerechten Umbau ihres Autos fehlt. Eine andere Lösung gibt es nicht. Nicht, wenn sie ihre Eigenständigkeit bewahren will. Ihr Mann, Schwiegereltern, Freunde fahren sie. Wenn gar nichts geht, ruft sie sich ein Taxi. Aber das ist nicht das gleiche. Sie will selbst fahren, dabei den Kopf frei kriegen und auf niemanden angewiesen sein. Sie will eigenständig sein. Nichts ist ihr wichtiger. „Wenn ich verdammt wäre, zuhause zu sitzen...“ Sie hält inne, blickt zum Küchenfenster raus.
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Ein banaler Unfall brachte Ute Friedrich in den Rollstuhl.
© Quelle: Sven Bartsch
Als sie von dem Moment erzählt, an dem ihr die Ärzte offerierten, ihr Fuß samt Unterschenkel müsse amputiert werden, füllen sich ihre Augen mit Tränen. Ute Friedrich macht keinen Hehl daraus, zu zeigen, wie sie sich fühlt. Die Erinnerungen sind, auch 22 Jahre nach ihrem Unfall, noch immer schmerzhaft. „Ich lag im Krankenhaus. Als die Ärzte mir sagten, dass sie einen Teil meines Beines abnehmen müssen, war von der Familie niemand bei mir. Ich musste die Entscheidung allein treffen“, sagt sie. Und sie traf eine Entscheidung. Zog einen Strich unter all die OPs, die Schmerzen, die Hoffnungsschimmer und die Enttäuschungen.
Erst Unterschenkel, dann Oberschenkel
In einer OP entfernen die Ärzte schließlich den kaputten Fuß und mit ihm den gesamten Unterschenkel. Das war am 12. August 2010. Mehr als zehn Jahre nachdem sie auf dem Bürgersteig in Ostrau umknickte. „Hoffentlich müssen wir nicht Stück für Stück weiter machen“, sagte ein Arzt damals zu ihr. Es sollte ein Omen sein. Nur wenige Monate später wird ihr auch der Oberschenkel abgenommen. Zu tief saß die Entzündung, zu groß waren die Schmerzen. Was es bedeutete, den Stumpf anzusehen, der von ihrem Bein übrig geblieben ist. Was es mit einem macht, wenn man plötzlich umfällt, weil einem das Gleichgewicht fehlt. Ute Friedrich kann das nicht in Worte fassen. Ihre Stimme versagt.
Sieben Gutachten hat Ute Friedrich bislang erstellen lassen. Keins davon brachte ihr, was sie sich erhoffte. Eine Prothese kam nie in Frage. Ihr Stumpf könnte der Belastung nicht standhalten. Irgendwann zieht sie auch darunter einen Schlussstrich. „Das Hoffen habe ich nicht mehr ertragen. Jedes Mal wurde ich enttäuscht.“ Mit dem Rollstuhl arrangiert sie sich. Er ist längst fester Bestandteil ihres Lebens. Als sie das erste Mal mit einem Rollstuhl unterwegs war und mit einer sich elektrisch öffnenden Tür kämpfte, sagte ihr ein älterer Herr, der sie dabei beobachtete: „Das wird sich ihr Mann nicht lange angucken.“ Für Ute Friedrich ist das wie ein Stich ins Herz. Ängste und Zweifel sind gesät. Es hat sich eingebrannt – in ihr Herz, ihr Wesen.
Rauhaardackel Yano gibt ihr Kraft
Und trotzdem: Aufgeben kam für Ute Friedrich nie in Frage. Ihre Familie ist ihr großer Halt. Ohne, hätte sie es nicht geschafft, sagt sie. Da ist ihr Mann, der immer an ihrer Seite steht. Ihre Tochter, die ihr Enkel schenkte. Da ist die Zimmernachbarin im Krankenhaus, die bei ihr war als die Entscheidung zur Amputation fiel und die längst eine gute Freundin ist. Und Yano. Ihr zwölfjähriger Rauhaardackel, der sich an sie schmiegt, als spüre er, wann sie es gerade am nötigsten hat.
Aber auch deshalb: „Fürs Aufgeben hatte ich überhaupt keine Zeit“, sagt sie. Nie war sie dankbarer für all ihre ehrenamtlichen Engagements. Die Bibliothek in Ottewig, der Frauenverein, ihre Arbeit im Vorstand des VdK. Das alles zwang sie, weiterzumachen. Und sie machte weiter, rieb sich auf und tut es bis heute. Im Jahr 1997 war sie eine der Mitbegründerinnen des Zschaitzer Frauenvereins. Vom ersten Tag an ist sie dessen Vorsitzende. „Wir haben mit 16 Frauen begonnen, heute sind wir 40“, sagt sie. „Jede einzelne ist mir ans Herz gewachsen.“
Minijob für die Urlaubskasse
2002 übernahm sie die Leitung der Ottewiger Bibliothek. Einmal in der Woche schließt sie seitdem die Türen der Bücherstube auf und zu. Bis vor ein paar Jahren waren sie außerdem Friedensrichterin für die Gemeinden Ostrau und Zschaitz-Ottewig. Und das alles ehrenamtlich. Einen Job hat sie auch. Sie arbeitet als Disponentin für Kläranlagenwartung, ist Ansprechpartnerin für sämtliche Bürgerbegehren. Es ist nur ein Minijob, doch darauf verzichten möchte sie nicht. Damit kann sich die Familie jedes Jahr einen Urlaub leisten.
All das bleibt derzeit auf der Strecke. Gerade erst hat sie eine Hüft-OP hinter sich. Das Knie macht ihr seitdem Probleme. Der Grund, warum sie ihr verbliebenes Bein nicht mehr nutzen kann wie sie will. Sie geht mehrmals die Woche zur Physiotherapie. Für mehr reicht die Kraft nicht. Sie zieht sich immer mehr zurück. „So bin ich eigentlich nicht. Ich merke, wie mich das alles verändert“, sagt sie. „Vieles mache ich mit mir selber aus. Ich will nicht immer und ständig von meiner Krankheit reden.“ Sie hält inne, blickt wieder zum Küchenfenster raus. „Das Bein muss mich tragen. Ich weiß nicht, wie es sonst werden soll.“ Dass ihre Kräfte sie Stück für Stück verlassen könnten, macht Ute Friedrich Angst. Sie sieht kein Licht am Ende des Tunnels. Ihr Leben fühlt sich gerade an wie eine Sackgasse. Sie ist abhängig – von Menschen, Umständen und dem eigenen Stolz. Ute Friedrich braucht einen Hoffnungsschimmer. Unbedingt.
So kommt Ihre Spende an
So spenden Sie: Füllen Sie einen Überweisungsschein aus. Zahlungsempfänger: LVZ-Spendenaktion, Verwendungszweck: „Hilfe für Ute Friedrich“. Sie tragen bitte Ihren Betrag ein, den Sie spenden möchten, und überweisen diesen an: IBAN: DE 7886 0554 6203 9102 3330, BIC: SOLADES1DLN. Spendenbescheinigung: Bis 200 Euro gilt die vollständig ausgefüllte Quittung im Original zusammen mit dem Bareinzahlungsbeleg oder Kontoauszug Ihrer Bank als Spendenbescheinigung für das Finanzamt. Für Spenden ab 200,01 Euro erhalten Sie von unserem Partnerverein, der Diakonie Döbeln eine Spendenbestätigung. Achtung: Dazu bitte Ihren vollständigen Namen und die Anschrift auf dem Überweisungsschein eintragen. Spendernamen: Die Namen der Spender werden in der Zeitung veröffentlicht. Daher bitte auf den Überweisungsschein ihren Namen und ihre Adresse eintragen. Sollten Sie das nicht wünschen, dann tragen Sie bitte auf dem Überweisungsschein „ANONYM“ ein. Im Nachhinein können Sie 24 Stunden nach der Überweisung der Namensveröffentlichung unter der Email: lesermarkt@lvz.de widersprechen. Spendenübergabe: Die LVZ-Aktion „Ein Licht im Advent“ geht vom 27. November bis 19. Dezember 2021. Der Gesamtbetrag an Spenden kommt anschließend unserem Hilfsprojekt zugute. Wir berichten regelmäßig auf lvz.de über die Spendenaktion. Sollten mehr Spenden zusammenkommen, als für das konkrete Hilfsprojekt benötigt wird, so geht das übrige Geld an unseren Projekt-Partnerverein.
Von Stephanie Helm
LVZ