50 Jahre Talkshows in Deutschland: Wir müssen reden
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Pionier des Gesprächsfernsehens: Moderator Dietmar Schönherr (mit Romy Schneider) während der Talkshow „Je später der Abend“ am 30. Oktober 1974. Am 18. März 1973 startete die erste Ausgabe der Sendung, die als Urtyp der Talkshow im deutschen Fernsehen gilt.
© Quelle: Horst Ossinger/ dpa
Es ist heute kaum vorstellbar, dass das mal eine revolutionäre Fernsehidee gewesen sein soll: Stell ein paar seltsame Sitzmöbel auf, lade ein paar Menschen ein, gib ihnen etwas zu trinken und lass sie reden. Eine „Talkshow“. Das Wort war so fremd, dass Moderator Dietmar Schönherr am 18. März 1973 dem wenig polyglotten WDR-Publikum die Vokabel erst mal erklären musste: „,Talk‘ kommt von ‚to talk’, also reden“, dozierte er, am Klavier stehend. „Das Ganze ist also eine Rederei. Und wenn Peter Alexander oder Rudolf Schock hier auftreten, dann singen sie nicht, sondern sprechen.“ Potztausend.
Rätselnde Blicke im Publikum. Eine Wasshow? Reden? Einfach so? Worüber denn? Schönherr gab sich nachsichtig. „Talkshow ist etwas, das wir alle nicht kennen“, sagte er milde. „Die Schwierigkeit liegt darin, dass man sich in Amerika, wo die Talkshows herkommen, leichter artikuliert, dass die Leute gewöhnt sind, spontaner zu sprechen, während wir uns hier bemühen, ganz fein auszuformulieren, was wir zu sagen haben. Diese Gewohnheit möchten wir gerne zerstören.“
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Ein halbes Jahrhundert später ist Schönherrs Mission vollbracht. Gewohnheitsmäßige Zurückhaltung? Zerstört. „Fein ausformulieren“? Nicht doch. Es sind wahrlich nicht die Schlüsseltugenden heutiger Talks. In gut zwei Dutzend Talkshows pro Woche redet sich das Stammpersonal die Münder wund, ungezählte Podcasts und Youtube-Shows kommen hinzu. Etwa 100 Gäste verschlingt die TV-Talkmaschinerie pro Woche. Alles ist knapp: Gäste, frische Ideen, Sinn und Verstand. Gewiss gibt es noch ab und an Zaubermomente. Im Kern aber sind Talkshows Egobooster, Kampfarenen und mediale Rummelplätze.
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„Das Ganze ist also eine Rederei“: Talkmaster Dietmar Schönherr (rechts) und sein Talk-Nachfolger Hansjürgen Rosenbauer (Mitte) unterhalten sich nach der Sendung von „Je später der Abend“ 1974 mit Studiogast Romy Schneider.
© Quelle: picture-alliance / dpa
Reden ist nicht das Problem – es ist das Schweigen
Reden ist heute nicht mehr das Problem. Es ist das Schweigen, das schwerfällt. Es ist nicht ganz das, was Schönherr im Sinn gehabt haben dürfte („Ich bin ein Träumer, der die Welt verbessern will“). Aber er legte damals, im Holozän des Fernsehens, als TV-Pionier immerhin die Saat für eine Entkrampfung der öffentlichen Meinungsfindung im schwerblütigen Volkshochschulmedium Fernsehen. Die Anschreiformate der Neunzigerjahre im Privatfernsehen haben ihre Zeit dankenswerterweise gehabt. Hans Meiser, Bärbel Schäfer, Ilona Christen oder Arabella Kiesbauer schulden den Deutschen eine Menge Lebenszeit. „Redereien“ aber gibt’s weiterhin im Überfluss: Montags im Ersten läuft „Hart aber fair“, dazu zweimal pro Woche „Maischberger“ und sonntags „Anne Will“. Im ZDF lädt „Markus Lanz“ dreimal wöchentlich ein, donnerstags außerdem „Maybrit Illner“. Sat.1 hat jüngst den Nachmittagstalk mit Britt Hagedorn reanimiert, freitags gibt’s seit Jahrzehnten in den Dritten „3 nach 9″ (auch schon 49 Jahren alt), „Riverboat“ im MDR oder die „NDR Talkshow“.
Es sind laute Zeiten. Wer heute schweigt, gilt im Wortsinne als nichtssagend. Wer sich im öffentlichen Leben Gehör verschaffen will, muss anbrüllen gegen eine Flut von Stimmen, Meinungen, Tweets, Posts und Statements von Expertinnen, Experten, Analystinnen, Analysten, Politikerinnen, Politikern, Welterklärerinnen und Welterklärern. „Die Deutschen“, hat der frühere US-Botschafter John Kornblum mal gestöhnt, „sind sehr gesprächig.“
Tatsächlich aber sind deutsche Polittalks selten Gespräche. Sie funktionieren eher wie EU-Gipfel oder Wrestlingkämpfe: Die Dramaturgie steht längst fest, wenn die Lichter angehen. Die Rollen sind klar verteilt, jeder weiß, was er zu tun und zu sagen hat. Die Talks mögen sich selbst als Dorfbrunnen des Politbetriebs verstehen, gar als populäre Ersatzparlamente. Sie wirken demokratisch, als böten sie Gelegenheit zur Neuausrichtung politischer Überzeugungen. In Wahrheit aber sind sie zumeist in Routine erstarrte, simulierte Partizipation. Deutschland einig Laberland.
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Angriff mit der Wasserpistole: Während einer Gesprächsrunde über gutes Benehmen zog der Ex-Kommunarde Fritz Teufel (r.) 1982 plötzlich eine Wasserpistole hervor und bespritzte den Bundesfinanzminister Hans Matthöfer (l.) mit einer blauen Flüssigkeit. Nach einigem Zögern revanchierte sich der Minister und kippte sein Getränk auf Fritz Teufel.
© Quelle: picture-alliance / dpa
Gewiss erinnert man sich gern kollektiv an die historischen Momente des (west-)deutschen Talkfernsehens. An Ton-Steine-Scherben-Manager Nikel Pallat, der 1971 im WDR mit einer Axt vergeblich auf einen erstaunlich widerspenstigen Tisch einschlug. An Romy Schneider, die 1974 den Bankräuber Burkhard Driest anschmachtete („Sie gefallen mir. Sie gefallen mit sehr“). An den hochnervösen Anarchisten Fritz Teufel, der 1982 in „3 nach 9″ mit einer Wasserpistole blaue Zaubertinte auf Finanzminister Hans Matthöfer (SPD) spritzte. Oder an Filmemacher Rosa von Praunheim, der 1991 auf dem „Heißen Stuhl“ bei RTL Alfred Biolek und Hape Kerkeling als homosexuell outete.
Doch so ehrlich muss man sein: Es ist dem Talkfernsehen seit Jahren nicht gelungen, derlei bundesweite Langzeitaufreger zu produzieren. Auch, weil es viel schwerer ist, in der grellbunten Gegenwart Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die öffentliche Erregung schwillt kurz an, wenn CDU-Chef Friedrich Merz über „kleine Paschas“ lamentiert, nazinahes Personal eine unnötig breite Bühne bekommt oder Sahra Wagenknecht ihre politischen Seltsamkeiten ventilieren darf.
In die Fernsehgeschichte aber geht nichts davon ein. Stattdessen: Rederoutine. Letzter größerer Talk-Aufreger war das Ende der RBB-Sendung „Chez Krömer“ im Dezember 2022. Gastgeber Kurt Krömer war nach einem ätzenden Talk mit dem als „Comedian“ bewimpelten Rundumpöbler Faisal Kawusi zu der Einsicht gelangt: „Mein Bedarf an Arschlöchern ist gedeckt.“
50 Jahre deutsche Talkshows haben mehr als bewiesen, dass die Frequenz nicht zwingend auch die Substanz erhöht. Und dass die demokratiefördernden Eigenschaften einer Talkshow verwässern, wenn immer dieselben Gäste zu Wort kommen. Es ist erstaunlich, dass in einem 80-Millionen-Menschen-Land nur ein paar Hundert „Talking Heads“ die „Debatte“ unter sich ausmachen. Im ersten Corona-Jahr war Karl Lauterbach 21-mal bei Markus Lanz im ZDF zu Gast. Seine Omnipräsenz wurde sprichwörtlich. Manche fragten scherzhaft: Wohnt der inzwischen im Studio in Hamburg-Altona? Pennt der auf einer zerzausten Isomatte und nippt an mildem Tee und salzloser Kost, bis der Lanz wieder ruft? Manche Dauergäste, wie FDP-Urgestein Wolfang Kubicki, muss man nicht einladen. Die muss man ausladen.
Talks befriedigen Eitelkeiten, aber nur selten Interesse. Kluge Köpfe, die den Konformitätsbruch wagen, zerschellen schnell an den erlernten Erwartungen. Helge Schneider etwa, der mit „Helge hat Zeit“ nur zwei Sendungen durchhielt. Oder Anke Engelke, die das Unternehmen kurzzeitig fortführte. Die Kaste der politischen Fernsehschaffenden reagiert bis heute irritiert über Versuche, Talk-Neuland zu betreten. Als Stefan Raab seine Pro-Sieben-Politshow „Absolute Mehrheit“ als kompetetiven Wettkampf inszenierte, weil er nicht anders kann, schrie das Establishment laut auf: Ein Geldpreis! In einer politischen Talkshow! Wo bleibt denn da bitte die Ernsthaftigkeit? Aber das war pure Heuchelei. Als ob es bei „Anne Will“ nicht auch um den populistischen Gag gehen würde, um das Generieren von wohlfeilem Bekenntnisapplaus mit den dramaturgischen Mitteln des politischen Musicals.
Der ganze Jauch – ein menschliches Fragezeichen
„Wir sind wie eine Chippendale-Kommode, die irgendwo herumsteht“, hat Alfred Biolek mal gesagt. „Sie passt eigentlich nicht mehr in die Wohnung, aber man würde sich auch keine neue mehr kaufen.“ Zwölf Jahre und 485 Sendungen lang war er der Gute-Nacht-Onkel des frisch wiedervereinigten Deutschlands. Drei hölzerne Bataviasessel, drei kitschig-güldene Beistelltischchen, ein üppiger Blumenstrauß, gebohnertes Parkett, ein verlorenes Klavier. Das war’s. Das war „Boulevard Bio“.
Unvergessen ist Bioleks Sendung aber nicht wegen ihres kargen Mobiliars, sondern wegen der Fähigkeit ihres Moderators zuzuhören. All seine kleinen Schrullen (das gerollte R, sein gefürchteter, explosiver Kurzhusten, die lustigen Onkeläuglein) verdrängten nie Bioleks wertvollste Tugend: Dieser Mann war nicht auf Sendung, sondern auf Empfang. Biolek nahm sich das Recht des Lebenskünstlers alter Schule heraus, selektiv an der Welt teilzunehmen. Er war in seinem Element. Ganz anders als der unglückliche Günther Jauch, Vorgänger von „Anne Will“ am Sonntagabend und ein großes Missverständnis als Politjournalist. Die Beine verknotet. Der Oberkörper verkrampft. Die Karten zum Schutz vor den Bauch gepresst. So saß er da gut vier Jahre in seinem Berliner Gasometer, der ganze Jauch ein menschliches Fragezeichen.
Eine Kamera verändert die Realität – immer
Zuhören können ist eine seltener werdende Tugend. Nicht nur im Fernsehen, sondern in der zwanghaft disruptiven Postmoderne insgesamt, die jede Gestrigkeit verachtet und Altmodisches und Leises kaum aushält. In Talkshows geht es nicht ums Zuhören. In Wahrheit geht es um das penetrante Lauern auf die nächste Lücke. Es geht darum, mit rhetorischer Geschmeidigkeit die Kargheit der eigenen Aussagen zu übertünchen. Ein Gespräch kann so kaum entstehen. Eine Kamera verfälscht die Realität. Zwingend und immer. Weil Menschen, ihrer gegenwärtig, sich anders verhalten.
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Neues Gesicht im Talkfernsehen: Britta Haßelmann (Grüne), Pro-Asyl-Sprecher Tareq Alaows, Journalistin Isabel Schayani, Moderator Louis Klamroth (2. v. r.), Politiker Jens Spahn (CDU) und Politikerin Tanja Schweiger (Freie Wähler) im Februar in der ARD-Talkshow „Hart aber fair“.
© Quelle: IMAGO/Panama Pictures
Das Fernsehen ist ein faules, gefräßiges Medium. Es folgt meist dem ersten Impuls, der naheliegendsten Idee. Talkshowredaktionen greifen gern zurück auf vertrautes Personal, das in bestürzender Penetranz Abend für Abend bekannte Wortstanzen abfeuert, fest gebucht für das jeweilige Thema. Nicht vorrangig ihre Kennerschaft macht sie zum ersten Ansprechpartner. Sondern ihre Fähigkeit, Sachverhalte mit provokanten Thesen ins Glitzergewand der Unterhaltung zu hüllen oder an der richtigen Stelle passgenaue, auf Pointe gefertigte Kernsätze von 30 Sekunden Länge zu liefern. „Der Experte ist ein gewöhnlicher Mann, der – wenn er nicht daheim ist – Ratschläge erteilt“, ätzte schon Oscar Wilde. Oder wie Peter Ustinov mal lästerte: „Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt explodiert, wird die Stimme eines Experten sein, der sagt: ‚Das ist technisch unmöglich.‘“
Abschied nach 16 Jahren – wie die Kanzlerin
Erheblich waren die Zweifel, als die ARD im Herbst 2011 mit fünf täglichen Talks an den Start ging. Wer eine Suppe streckt, muss sich nicht wundern, wenn sie dünner wird. Der frühere WDR-Intendant Friedrich Nowottny sagte damals einen klugen Satz. Wie er denn die vielen ARD-Talks sehe, wurde er gefragt. „Nun“, sagte Nowottny knapp. „Wir sind ja auch ohne sie ausgekommen.“ Zuletzt gab es Versuche, dem erstarrten Format „Talk“ neues Leben einzuhauchen. Frank-Plasberg-Nachfolger Louis Klamroth (32) müht sich in „Hart aber fair“ um frischen Wind, statt bloß im Stakkato Standpunkte abzufragen. Er hätte aber vielleicht doch rechtzeitig offenlegen sollen, dass seine Freundin die Klimaaktivistin Luisa Neubauer ist.
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Abschied nach 16 Jahren – wie die Kanzlerin: Moderatorin Anne Will im Studio ihrer ARD-Talkshow.
© Quelle: Jörg Carstensen/dpa
Ende des Jahres verabschiedet sich nun Anne Will nach 16 Talkjahren in der ARD. Die Pflichtbewusste, artige Kölner Katholikin, die früher viel lieber das kreuzbrave Nachbarsmädchen Annika sein wollte als die kecke Pippi Langstrumpf, war damit genauso lange im Amt wie Ex-Kanzlerin Angela Merkel. „Wer den Sonntagsplatz bespielt, braucht sich nicht zu sorgen, voll auf die Fresse zu bekommen“, hat sie dem Magazin „Übermedien“ mal gesagt. Ihr Abschied bietet für die ARD eine gewaltige Chance, nämlich den Bruch mit Erwartungen. Die Sonntagsrunde im Ersten – 1998 von Sabine Christiansen etabliert – wirkt ja seit Jahren schon, als existiere sie seit kurz nach dem Krieg. Das verleitet dazu, sich auf die Macht der Gewohnheit zu verlassen. Wird schon einer gucken.
„Das Glück des Denkens“
Aber die Ansprüche an das Talkfernsehen haben sich massiv verändert. Es ist nur erfolgreich, wenn es die Balance zwischen Präzision, Strenge, Relevanz und Unterhaltung schafft. Und wenn es ab und zu etwas Neues wagt – wie der WDR vor 50 Jahren mit Schönherrs „Je später der Abend“. Es ist nicht viel Raum für Diffuses im deutschen Fernsehen, für Nachdenklichkeit, Zwischentöne, Graustufen. Dieses Medium der „konsequenten Unterforderung“ (Roger Willemsen) verlangt nach Extremen, nach klarer Verortung und absoluter Unmissverständlichkeit. Aber „es gibt ein Glück des Denkens, das durch andere Glückszustände nicht ersetzbar ist“, hat Willemsen mal gesagt.
Wie wäre es also mal mit einer Sonntagssendung, bei der das Mitdenken wirklich Freude macht? Mit interessanten Menschen, die mehr liefern als die rituelle Selbstvergewisserung der Berliner Politblase? Mit einer Moderatorin, die Oberflächlichkeit nicht durchgehen lässt? Es könnte ein neues Fest des Fernsehens werden.
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