Der Mediensturm
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Kerry Sanders live auf MSNBC.
Miami. Sie haben sich Nüsschen gekauft, Brot, Trockenfleisch und Erdnussbutter. Sie haben eine Wanne mit Wasser gefüllt und in die Badewanne gestellt. Jetzt sitzen die drei Reporter im Bad ihres Hotelzimmers in Florida auf dem Fußboden und blicken finster in die Selfie-Kamera. So sieht das aus, wenn sich die Weltpresse auf die Apokalypse vorbereitet.
Sie wartet auf „Irma“. Das „gefährliche Biest“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“), das „Monster“ („Bild“), den „Killer-Sturm“ („Mirror“), den „gnadenlosen Super-Hurrikan“ („Focus“), der für ein paar „höllische Stunden“ („Spiegel Online“) nicht nur die Florida Keys fest im Griff hat, sondern auch die globale Berichterstattung. Martialische Krisenrhetorik auf allen Kanälen. Moderatoren addieren wohlig schaudernd die Sachschäden. 20 Milliarden Dollar? 30? 50? Oder gleich 300 Milliarden, wie NBC mutmaßte? Wer bietet mehr? Weltuntergangserregung.
Wieder hat die Weltpresse ihre Reporter in den Wind gestellt, hat sie in Gummistiefeln und Neoprenanzügen an die Wetterfront geschickt, und da stehen sie vor zerzausten, peitschenden Palmen und warnen gleichzeitig davor, sich in diesem Chaos aufzuhalten. Die Lage: unübersichtlich. Der Erkenntnisgewinn: übersichtlich. Der Sender MSNBC hat einen Reporter gar mit einem gelben Spanngurt angeleint, damit ihn „Irma“ nicht ins Nirgendwo davonträgt. „Um Himmels willen“, twitterte der Journalistikprofessor Jeff Jarvis – „wenn Sie Ihre Reporter festbinden müssen, dann verzichten Sie doch auf diesen Dreh.“ Ein US-Reporter wird von herumfliegendem Schrott getroffen, bricht die Live-Schalte unter Schmerzen ab. Es ist ein schmaler Grat zwischen ganz dicht dran und nicht ganz dicht.
Es war, als habe es das tödliche Chaos auf Kuba nie gegeben
In der ARD steht „Tagesschau“-Reporter Jan Philipp Burgard auf dem Balkon eines Hochhauses in Miami in der grauen Suppe, eine Hand am Geländer, eine am Mikrofon. Auf seinem Taucheranzug prangt das ARD-Logo. Er sagt nichts, was man aus einem Haus mit Dach nicht auch hätte berichten können. Es ist, als sei die Heftigkeit eines Hurrikans erst final erwiesen, wenn ein nasser Reporter mit zerstörter Frisur sich selbst den Elementen ausliefert. „Wer jetzt nicht in Sicherheit ist, für den ist es eigentlich zu spät“, sagt Burgard ins Mikrofon. Und damit zurück nach Hamburg.
Tatsächlich hat „Irma“ nicht bloß Schutt und Geröll aufgeworfen, sondern auch viele Fragen. Zum Beispiel die, warum die globale Medienmaschine erst so richtig in Wallung geriet, als es in Florida zu regnen begann – fünf Tage, nachdem „Irma“ in der Karibik schwerste Verwüstungen angerichtet hatte. Es war, als habe es das tödliche Chaos auf Kuba nie gegeben, die Todesopfer, die meterhohe Flut in Havanna. Es war, als seien die Toten und Verletzten in den europäischen Exklaven auf Guadeloupe, Saint Barthélémy und St.-Martin nicht so wichtig. Natürlich: Auf der Landkarte der medialen Wahrnehmung spielt die technische Infrastruktur eine entscheidende Rolle. Ein engmaschiges Netz an Sendern und Kamerateams plus unzensierter Zugang zum Netz fördern die Versorgung mit spektakulären Bewegtbildern.
Aber das allein erklärt noch nicht, warum ein Sturm in den USA eine größere Medienerregung auslöst als ein Erdbeben in Mexiko mit 90 Toten oder der Taifun „Hato“ in Südchina vor 14 Tagen, bei dem knapp 20 Menschen ums Leben kamen. „Hato“? Erinnert sich jemand?
Philippinen? Ist da nicht sowieso dauernd Sturm?
Es herrscht kein Zweifel daran, dass „Irma“ zu den schwersten Stürmen gehörte, die die Welt je gesehen hat. Bei der Berichterstattung freilich messen die westlichen Medien mit zweierlei Maß.
Interessiert sich der Westen nur für den Westen? Die Bedeutung eines Ereignisses für einen bestimmten kulturellen Raum errechnet sich aus vielerlei teils zynisch wirkenden Parametern: Folgen für die Welt, Folgen für den Einzelnen, persönliche Betroffenheit, emotionales Potenzial, Kosten, Opfer, Historie, Überraschungseffekt. Die geografische Nähe ist eher nachrangig. Der „Westen“ ist ja kein homogenes Gebilde, quasi ein geschlossener Kontinent, sondern ein zerfasertes Netz von Regionen, die aus historischen Gründen gemeinsame Werte und Traditionen teilen. Warum also löst ein Hurrikan im Atlantik die journalistischen Reflexe der westlichen Welt verlässlicher aus als ein Taifun in Südchina? Die tradierte Antwort darauf ist, dass Florida den Europäern kulturell und emotional näher ist als Macao, Indien, Hongkong oder Fidschi. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit zwingt unsere überladenen Gehirne zum Sortieren: Es passiert so viel auf der Welt, dass man nicht alles gleichermaßen bedeutend finden kann. Kein Mensch ist in der Lage, der ganzen Welt mit flächendeckender Empathie zu begegnen. Die Flut an Krisen zwingt uns zu einer Auswahl. Florida? Kennen wir. Da war mein Kollege 2015 im Urlaub. Südchina? Kambodscha? Die Philippinen? Ist da nicht sowieso dauernd Sturm? Ist das nicht normal?
Ein Hurrikan in Kuba? Schulterzucken. Derselbe Hurrikan 200 Kilometer weiter nördlich? Sensation. „Die Welt hält den Atem an!“ („Der Westen“).
Und so bereiteten sich Heerscharen von Korrespondenten auf die Apokalypse vor – auch angelockt von der attraktiven Fallhöhe der „Irma“-Katastrophe: Schwarze Wolken über dem Sunshine State. Florida erst im Würgegriff von „Harvey“, dann von seiner bösen Schwester „Irma“. Eine Zeit lang schien es fast, als werde die Halbinsel aufhören zu existieren. Als drohe „Irma“ den gesamten Bundesstaat in den Golf von Mexiko zu pusten. „Ist Irma der Beginn vom Ende der Welt?“, fragte der britische „Express“ bang. Der Sturm „rase auf die Küste von Florida zu“, hieß es. Tatsächlich bewegte sich „Irma“ zuletzt mit 14 Kilometern pro Stunde, wie Meteorologe und Medienkritiker Jörg Kachelmann anmerkte. Aber diese Bilder! Gravitätische Gouverneure mit sorgenzerfurchter Stirn, überfüllte Ausfallstraßen, auskunftswillige Augenzeugen, umstürzende Baukräne. Die Stadt Tampa könne zur „tödlichen Falle“ werden, mutmaßt in prophylaktischem Gruselrausch gar ein öffentlich-rechtlicher Reporter aus Deutschland.
Die Berichterstattung bezog ihren Kitzel aus dem, was passieren könnte
Die skurrile Faszination, die Wetterereignisse für das Publikum haben, hat damit zu tun, dass ein unberechenbares, unbeeinflussbares System Macht über den Menschen ausübt, der ja gelegentlich dem Irrtum unterliegt, alles im Griff zu haben. Mögen Revolutionen ausbrechen, Diktatoren stürzen oder Staaten kollidieren – wenn in Deutschland drei Zentimeter Schnee fallen, macht die ARD einen „Brennpunkt“.
Anders als ein paar Flocken im Allgäu aber war „Irma“ tatsächlich eine Naturkatastrophe, die diesen Namen verdient. Am Ende aber blieb der angekündigte Weltuntergang aus. Der Umgang mit diesem Sturm verrät viel über selektive Wahrnehmung, über die immer kürzeren Erregungszyklen, die die öffentliche Debatte bestimmen. Die „Irma“-Berichterstattung bezog ihren Kitzel aus dem, was passieren könnte, statt aus dem, was ist. Damit folgt sie den Regeln eines Trugbildjournalismus, der sich der Spekulation verpflichtet fühlt. Die Frage, welchen Nutzen es hat, wenn sich Hundertschaften von Livereportern in Allwetterjacken mit Puschelmikrofonen in den Wind legen, stellt sich in diesem System gar nicht. Es ist ein Wirbelsturm der Wahrnehmung, der sich aufbaut wie ein Hurrikan, immer neu mit Energie versorgt durch soziale Medien, klickabhängige Superlativportale im Netz und erregte Reporter mit Notnahrung im Hotelbadezimmer. Es ist der perfekte Sturm. Er legt sich – wie ein Hurrikan – erst, wenn er das Festland der Gewissheiten erreicht, wenn der Nachschub an Bildern versiegt.
Es ist ein Teufelskreis. Denn im überhitzten Nachrichtenwesen hat ein mittelgroßes Ereignis kaum noch Chancen, überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden. Es ist das Zeitalter der Superlative. Superstürme. Supersiege. Superpräsidenten. Und so wird im Sport ein Trainerhalbsatz zum „Riesen-Zoff“ und in der Politik ein Sachkonflikt zum „Koalitions-Donnerwetter“. Und beim Wetter ist ein Hurrikan eben mindestens ein „Killer-Sturm“. Dahinter steht die Sorge, dass die profane Wirklichkeit mit den Anforderungen der modernen Medienwelt nicht mithalten könnte.
Viele Menschen eint inzwischen ein diffuses Überforderungsgefühl
Denn was nicht in Zehntelsekunden auf Interesse stößt, wird ignoriert. Was substanziell, aber reizarm ist, wird aussortiert. Das führt zu einer Simplifizierung der Welt, einer Aufsplitterung großer Zusammenhänge in disparate, leicht konsumierbare, grell ausgeleuchtete Einzelfacetten. Die Welt als Push-Meldung. Immer mehr Medien befinden sich in permanentem Alarmzustand, in dauerhafter, fiebriger Erwartung. „Nachrichten sind für den Geist, was Zucker für den Körper ist“, schreibt der Schweizer Schriftsteller Rolf Dobelli. Bonbons allein aber machen nicht satt. So entsteht schleichend das Gefühl, dass das Signal-Rausch-Verhältnis im Journalismus aus dem Lot geraten ist, das Verhältnis von Grundrauschen und Substanziellem.
Die punktuelle Dauerstimulation hat Folgen: Viele Menschen eint inzwischen ein diffuses Überforderungsgefühl, nicht wenige schalten angesichts der schieren Masse an unsortierten Informationen innerlich auf Autopilot.
Umso heftiger – das hat der Mediensturm um „Irma“ gezeigt – muss der Reizpegel sein, damit eine Story überhaupt noch auf Gehör stößt. Es ist ein Teufelskreis mit Folgen: Eine Katastrophe auf Kuba, zu der es keine Bilder gibt, hat keine Chance gegen dasselbe Drama in den USA. Und dort knoten sich Reporter unter Lebensgefahr an Laternenmasten. Für ein Publikum, das auf dem Sofa die Zerstörungsmacht der Natur bestaunt. „Wir schlürfen die Katastrophen wie die Cocktails“, hat Norbert Blüm mal gesagt – „und richten uns, sozial gesichert, im Untergang ein. Das neue Gesellschaftsspiel heißt: Titanic im Trockendock.“
Es ist gut, dass dieser Sturm sich legt. In jeder Hinsicht.
Von Imre Grimm/RND