Fall Sarah-Lee Heinrich: Der Empörungsmechanismus wurde gehackt
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Sarah-Lee Heinrich, neue Bundessprecherin der Grünen Jugend.
© Quelle: Bodo Schackow/dpa-Zentralbild/dp
Hannover. Man wird in diesem Text nicht um dieses eine Wort herumkommen, daher nennen wir es doch gleich zu Beginn: Cancel Culture. Ein Schlagwort, das ab Mitte der 2010er-Jahre erstmals in den USA aufploppte und längst auch nach Europa geschwappt ist. Es beschreibt den Umstand, dass ein Prominenter in der Öffentlichkeit „abgesägt“ wird, weil er irgendetwas moralisch Verwerfliches gesagt oder getan hat. Die Mechanismen dahinter, zum Beispiel organisierte Entrüstungsstürme im Netz, nennt man Cancel Culture.
Die Vertreter dieser Empörungskultur werden für gewöhnlich dem linken Spektrum zugeordnet, die moralischen Vergehen der Beschuldigen können bereits Jahre zurückliegen. Schon früh spielten beim „Canceln“ immer wieder digitale Jugendsünden von Prominenten eine Rolle. Man buddelte solange in alten Social-Media-Beiträgen herum, bis man etwas Verwerfliches fand – es folgten hysterische Entrüstungsstürme, mindestens einmal pro Woche muss sich sich irgendein Schauspieler, Regisseur, Aktivist, Journalist oder Unternehmer für sein Geschwätz von gestern entschuldigen, einige von ihnen verloren ihren Job.
Es kann jeden treffen
Inzwischen läuft dieser Entrüstungsmechanismus so routiniert ab, dass er fast zu einer eigenen Nachrichtenkategorie geworden ist. Die Journalistin Alexi McCammond verlor Anfang des Jahres ihren Job als Chefredakteurin der „Teen Vogue“, nachdem homophobe Tweets von ihr aufgetaucht waren, die sie geschrieben hatte, als sie noch nicht einmal volljährig war. Shila Iqbal, Star der Fernsehserie „Emmerdale“, wurde 2019 vom Fernsehnetzwerk ITV gefeuert, nachdem rassistische Tweets aus dem Jahr 2013 aufgetaucht waren – damals war Iqbal 19.
Von Supermodel Chrissy Teigen fanden Twitter-Nutzerinnen und -Nutzer alte Tweets, in denen über Selbstmord, Selbstverletzung und Transgender-Frauen gescherzt wurde – mehrere Werbepartnerschaften gingen der heute 35-Jährigen flöten. Und im Jahre 2017 entließ das britische Magazin „Gay Times“ seinen neuen Redakteur Josh Rivers, nachdem aus seinen frühen Tagen antisemitische, frauenfeindliche und behindertenfeindliche Tweets aufgetaucht waren.
Und weil das Phänomen inzwischen jeden treffen kann, gibt es sogar ganze Ratgeberartikel zu dem Thema. „So löschen Sie alte Tweets, bevor sie Sie verfolgen“, titelte beispielsweise „NBC News“ im Jahr 2018. Die Kurzform: Es gibt Drittanbieter, die das eigene Twitter-Profil entweder kostenlos oder für ein paar Euro „aufräumen“ – praktisch.
Entschuldigungen zählen nicht
Eine gute Investition sind die paar Euro allemal – auch in Deutschland. Insbesondere dann, wenn man vorhat, ein öffentliches Amt anzutreten. Das Buddeln in alten Tweets scheint für einige so etwas wie eine Lebensaufgabe geworden zu sein, fast schon eine Art Religion. Die eigenen Moralvorstellungen sind das Unantastbare, werden diese verletzt, muss es größtmögliche Konsequenzen hageln. Es wird gescreenshottet, gepostet und gebrüllt, und jede Aussage an den heutigen moralischen Wertvorstellungen gemessen. Die Mechanismen der Plattform Twitter begünstigen das. Wer hier nur laut genug schreit, wird gehört.
Der Unterschied zu echten Religionen ist: Entschuldigungen helfen hier gar nichts mehr, es gibt in dieser Weltanschauung keine Sühne – es gibt nur die Bestrafung. Was ebenfalls keinen Wert hat: Kontext. Warum eine Person einst einen strittigen Tweet verfasste, auf welche politischen Diskussionen er sich möglicherweise seinerzeit bezog und in welcher Lebenssituation der Beschuldigte damals steckte, wird allenfalls am Rande diskutiert.
Und auch wenn sich das Ausbuddeln und Canceln inzwischen immer größerer Beliebtheit erfreut, so hat die Sache doch einen Haken: Dieser Empörungsmechanismus ist hackbar. Und in den vergangenen Wochen wurde das gleich zweimal deutlich: im Fall Nemi El-Hassan und im Fall Sarah-Lee Heinrich.
Die Gedanken einer 13-Jährigen
El-Hassan sollte eigentlich neue Moderatorin der WDR-Wissenssendung „Quarks“ werden, als plötzlich alte Fotos, Likes und Tweets aus längst vergangenen Zeiten auf Twitter auftauchten. Ausschlaggebend für die Aufregung war vor allem ein Foto, das die Journalistin auf der israelfeindlichen Al-Kuds-Demo im Jahre 2014 zeigt – ihren Job verlor sie schließlich jedoch wegen fragwürdiger Instagram-Likes. Der WDR trennte sich von der Moderatorin, um eine „unangebrachte Politisierung der renommierten Wissenschaftssendung“ zu vermeiden.
Der aktuellste Fall ist der von Sarah-Lee Heinrich. Die neu gewählte Bundesvorsitzende der Grünen Jugend hatte mit zarten 13 Jahren unterirdischstes Zeug in ihren Twitter-Kanal geblasen – damals, als sie noch ein Kind war und noch dazu völlig unbekannt. Genau diese Tweets werden der heute 20-Jährigen nun zum Verhängnis.
Abgesehen von der Ausgangslage haben die beiden Fälle eines gemeinsam: Die strittigen Jugendsünden sind nicht einfach so bei Twitter aufgetaucht – sie wurden aktiv ausgebuddelt und organisiert verbreitet. In diesem Fall jedoch nicht etwa von Vertretern, die man der sogenannten Cancel Culture zuordnen würde – sondern von ihren politischen Gegnern.
Cancel Culture von rechts
Ein „Zeit“-Artikel zeichnet ziemlich genau nach, wie die Vorwürfe gegen Nemi El-Hassan ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden. Ein antimuslimischer Aktivist aus der rechten Szene bekommt einen Tipp und durchforstet akribisch Bilder der Demonstration, um El-Hassan auf den Aufnahmen zu finden. Kurz darauf macht er seine Entdeckung in einem Livestream öffentlich, später dann noch mal im AfD-nahen „Deutschland-Kurier“.
Ein rechter Youtuber wiederum greift das Thema ebenfalls auf. Der Mann initiiert laut „Zeit“ regelmäßig Shitstorms, Doxxing-Aktionen und Hass gegen Andersdenkende. Das öffentlich-rechtliche Jugendangebot Funk und damit auch die Journalistin El-Hassan gehören schon seit Jahren zu seinen Feindbildern. Von hier aus findet das Thema schließlich seinen Weg in die rechte Twitter-Blase: Neben den Demofotos werden schließlich auch die Tweets, Likes und Poetry-Slam-Auftritte der Moderatorin durchforstet. Am 13. September berichtet mit der „Bild“-Zeitung erstmals ein etabliertes Medium über die Vorwürfe, das Thema ist damit in der breiten Öffentlichkeit.
Der Fall Sarah-Lee Heinrich läuft ähnlich ab. Als die 20-Jährige am Wochenende zur neuen Bundesvorsitzenden der Grünen Jugend gewählt wird, posten zunächst einschlägig rechte Twitter-Accounts Memes unter Tweets von etablierten Nachrichtenseiten, etwa von der „Tagesschau“. Ihnen ist die Jung-Politikerin schon lange ein Dorn im Auge – zitiert wird vor allem Heinrichs Aussage von der „ekligen, weißen Mehrheitsgesellschaft“ sowie ein Videobeitrag, in dem sie sich über „so viele weiße Bürgis“ beschwert, die bei Fridays for Future mitlaufen. Auch ein reichweitenstarker Youtuber aus der rechten Szene mit 40.000 Followern beschwert sich über Heinrichs Aussagen und stichelt die Diskussion weiter an.
Von der rechten in die bürgerliche Blase
Kurz darauf betätigt offenbar irgendjemand die Twitter-Suche – denn da beginnen erste Accounts aus dem rechten Lager, die Screenshots zu teilen, über die nun alle diskutieren. Auf einem beschwert sich das 13-jährige Ich der Politikerin über den „Bachelor“ und beleidigt ihn homophob, auf einem anderen Tweet ist als Antwort auf einen Tweet das Wort „Heil“ zu lesen.
Ein (laut Twitter-Bio) AfD-Wähler fordert in bester Cancel-Culture-Manier den „sofortigen Rücktritt“ der neuen Bundesvorsitzenden, weil: „Nazis keinen Raum bieten, Grüne Jugend verbieten, jetzt!“
Kurz darauf erscheinen erste Tweets von Jungliberalen, die Heinrich kritisieren. Dann findet das Thema schließlich auch Beachtung in anderen Blasen, der Hashtag #sarahleeheinrich trendet, zahlreiche Medien berichten.
Alles lässt sich finden
Ganz unabhängig von den tatsächlichen Vergehen der beiden Beschuldigten zeigt sich an diesen Beispielen ziemlich gut, wie schnell sich das Empörungsspiel aushebeln lässt. Im Falle von El-Hassan etwas komplizierter, im Falle von Heinrich kinderleicht.
Die erweiterte Twitter-Suche ist inzwischen so präzise und bietet so viele Einstellungsmöglichkeiten, dass sich von jedem x-beliebigen Nutzer innerhalb weniger Sekunden Tweets aus früheren Jahren finden lassen. Die Suche lässt sich zeitlich eingrenzen, man kann sogar nach bestimmten Wörtern suchen.
Nicht bei jedem finden sich wahrscheinlich so fragwürdige Post wie die von Heinrich, nicht jeder war mit 13 bereits auf Twitter. Aber die Chance, dass man irgendetwas findet, ist ziemlich hoch – und somit auch die Chance, einen Entrüstungssturm zu initiieren.
Das Spiel mit der Moral
Was rechte Kreise nun tun, ist nichts anderes als ein Spiel mit der Moral, die sie selbst ja gar nicht besitzen. Keinen einzigen Rechtsextremen stört es, wenn Sarah-Lee Heinrich jemanden homophob beleidigt, im Gegenteil. Aber sie stören sich an Heinrich und El-Hassan – und sie haben sich die Empörungsmechanismen der Linken genau abgeguckt. Sie wissen, welche Knöpfe sie drücken müssen, um ihre wunden Punkte zu treffen. Der Weg dahin wurde ihnen über Jahre hinweg geebnet. In gewisser Weise könnte man sagen, das Cancel-Gebrüll der vergangenen Jahre fällt den Akteuren an dieser Stelle auf die Füße.
Und jetzt? „Vollste Solidarität“ schallt es derzeit aus allen möglichen Twitter-Ecken im Falle Heinrich, ihr Ruf ist dennoch beschädigt. Bei Nemi El-Hassan positionierten sich nach der Aufregung Hunderte Menschen aus Funk, Fernsehen und Wissenschaft bei einer gemeinsamen Unterschriftenaktion mit der Moderatorin, dort beklagten sie eine rassistische Kampagne – gebracht hat es am Ende nichts.
Man könnte natürlich einmal mehr für eine besonnene Debattenkultur auf Plattformen wie Twitter plädieren. Aber diesen Geist noch zurück in die Flasche zu bekommen, das ist völlig unmöglich. Und klar ist auch: Wären derartige Tweets eines konservativen Politikers aufgetaucht, so hätte die sogenannte Cancel Culture sicherlich keine Solidarität gefordert. Sie hätte Konsequenzen gefordert und größtmögliche Bestrafung – wie immer halt. Weil Entschuldigungen und Reue nichts mehr wert sind.