Feindbild Presse: Bedrohungen von Journalisten durch „Querdenker“ nehmen zu
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Verlorenes Vertrauen: Demonstranten in Rostock mit einem „Lügenpresse“-Plakat.
© Quelle: dpa
Vor dem ZDF-Hauptstadtstudio Unter den Linden in Berlin haben sich Dutzende Menschen versammelt. Sie brüllen „Lügenpresse!“ und „Ihr seid schuld!“. Die Presse müsse „zum Schweigen gebracht werden!“, zürnt ein Redner. Polizistinnen und Polizisten sind aufmarschiert, um das Gebäude zu schützen. Die Lage ist bedrohlich. Die Eskalation in der vergangenen Woche ist nur eine von zahllosen Situationen der vergangenen Jahre, in denen wütende „Querdenker“ auch Journalistinnen und Journalisten beschimpften, bedrohten, bespuckten oder körperlich attackierten.
Fußtritte und Ohrfeigen gegen Fotografierende. Niedergebrüllte Reporterinnen und Reporter. Prügelnde Demonstrierende. Privatadressen, die in Chatforen verbreitet werden. Rechte Verschwörungsinfluencer, die sich mit dubiosen „Presseausweisen“ selbst als Berichterstattende tarnen. All das lässt in der Summe nur einen Schluss zu: Die selbsternannten Verteidiger des Grundgesetzes haben massive Probleme mit kritisch-freier Berichterstattung.
Tagtäglich erleben außer Politikern, Ärzten, Polizisten und Wissenschaftlern auch zahlreiche Journalisten aggressive Angriffe. Und die Lage eskaliert. Bei einer Demo gegen Corona-Maßnahmen in Cottbus wurde kurz vor Weihnachten zu einer regelrechten Treibjagd auf ein Team des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) aufgerufen.
„Es ist Gefahr in Verzug“, warnte gestern Frank Überall, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV), bei einer Pressekonferenz in Berlin. Nach den „Lügenpresse“-Parolen auf den Pegida-Demonstrationen vor sechs Jahren sei die Gewalt jetzt konkreter geworden. „Die Qualität der Bedrohung hat sich geändert“, sagte Überall. Das Thema Pressefreiheit gehöre angesichts der Bedrohungslage wieder ganz oben auf die politische Agenda, forderte der DJV-Bundesvorsitzende: „Es ist wichtig, dass wir unseren Job machen und ihn auch machen können. Es ist wichtig, dass die Polizei uns schützt und uns nicht noch in unserer Arbeit behindert.“
„Polizisten kennen den Presseausweis nicht“
Sicherheitskräfte und Journalisten sollten deshalb frühzeitig kooperieren, forderte der DJV. „Wir stellen leider immer wieder fest, dass Polizisten den Presseausweis nicht kennen“, sagte Überall. Das sei vor allem dann fatal, „wenn sich Aktivisten als Presse ausgeben und mit Fantasieausweisen wedeln“.
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„Wir stellen leider immer wieder fest, dass Polizisten den Presseausweis nicht kennen“: Frank Überall, Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV).
© Quelle: Oliver Berg/dpa
Mit einem neuen Flyer („So sieht der bundeseinheitliche Presseausweis aus“) und einer digitalen Schnellcheckliste für Einsätze will der Journalistenverband nun unsicheren Polizisten Hilfestellung zum Presserecht geben sowie zu der Frage, welcher Ausweis tatsächlich offiziell nachweist, dass der Inhaber einer „hauptberuflichen sowie verantwortlichen und im öffentlichen Interesse liegenden journalistischen Tätigkeit“ nachgeht, seinen Lebensunterhalt überwiegend aus der journalistischen Tätigkeit erzielt und kein Aktivist mit selbst gebasteltem Fake-Ausweis ist.
Zudem erinnerte der DJV an wichtige Grundrechte: „Das Fotografieren und Filmen polizeilicher Einsätze ebenso wie die Tonaufzeichnung des öffentlich gesprochenen Wortes ist grundsätzlich erlaubt.“
„Die Feinde der Demokratie müssen zur Rechenschaft gezogen werden“
Der DJV-Vorsitzende wies erneut auf die wachsende Bedrohungssituation von Journalisten hin: „Das reicht von Beleidigungen per Mail über Hasstweets bis hin zu Mordaufrufen.“ Aktuell betroffen sei auch ein Mitglied des DJV-Bundesvorstands. „Die Feinde der Demokratie müssen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie beleidigen, zuschlagen oder noch Schlimmeres tun“, sagte Überall. Der neueste Trend zur Unterdrückung freier Berichterstattung sei es, „Kameras absichtlich zu blenden, damit keine verwertbaren Aufnahmen entstehen können“. Auf „Querdenker“-Demos sei eine enge Zusammenarbeit von Journalistinnen und Journalisten sowie Sicherheitskräften unverzichtbar.
Polizisten schützen Journalisten – das ist die verfassungsmäßig vorgesehene Aufgabenteilung. Im August 2021 kam es zum umgekehrten Fall: Ein freier Fotograf stellte sich bei einer „Querdenken“-Demo schützend vor einen gestürzten Polizeibeamten, der von einer wütenden Menge attackiert worden war. „Eine freie Berichterstattung ist teilweise überhaupt nicht mehr möglich, da man, sobald man eine Maske trägt und eine Kamera in der Hand trägt, körperlich sehr aggressiv angegangen wird“, sagte der Fotograf, der anonym bleiben wollte, in einem „Spiegel“-Video. Auch er bestätigt: „Die Radikalisierung der ‚Querdenker‘ hat immer weiter zugenommen.“
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Allein seit Mitte November hat es in Chaträumen des Nachrichtendienstes Telegram – des wichtigsten Sammelbeckens für Verschwörungsgläubige – rund 250 Tötungsaufrufe gegeben. Das ergab jüngst eine Recherche der „Tagesschau“. Sicherheitsbehörden bestätigen den Trend: Die Aggression nimmt zu. Es soll sich nur um die sichtbare Spitze des Eisbergs handeln, denn die meisten Telegram-Chats sind geschlossene Gruppen.
Allein für 2021 hat das Europäische Zentrum für Presse und Medienfreiheit rund 100 Übergriffe dokumentiert. Das sind deutlich mehr Vorfälle als im Jahr 2020. Damals waren es 69 Übergriffe – schon damals ein Höchststand. „Es wird immer schwieriger, Reporterinnen und Reporter zu finden, die bereit sind, über Demos von Maßnahmengegnern, Impfgegnern und ‚Querdenkern‘ zu berichten“, sagte Gerhard Kockert, leitender Redakteur beim Bayerischen Rundfunk, in einem BR-Beitrag.
„Impfgegner, ‚Querdenker‘, Corona-Leugner, Medienhasser und Demokratiefeinde“
„Was auf der Straße mit ‚Lügenpresse‘-Schmährufen angefangen hat, steigert sich zur ernst zu nehmenden Gefahr für uns Journalistinnen und Journalisten und für das Grundrecht der Presse- und Meinungsfreiheit“, sagte Überall. Die Aktionen der „kleinen, radikalen Minderheit der Impfgegner, ‚Querdenker‘, Corona-Leugner, Medienhasser und Demokratiefeinde“ (DJV) zeigten, dass der Hass auf Journalisten keine Grenzen mehr kenne.
Er hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bereits vor Tagen aufgefordert, hart und entschlossen gegen Absender von Mord- und Gewaltaufrufen vorzugehen. Der DJV-Vorsitzende erinnerte daran, dass die neue Innenministerin bei ihrem Amtsantritt ein entschlossenes Vorgehen gegen Extremisten und militante Pressefeinde angekündigt habe: „Frau Faeser, lassen Sie den Worten Taten folgen. Die Lage ist ernst.“
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Feindbild Presse: Demonstranten in Nürnberg am 3. Januar 2022.
© Quelle: imago images/Future Image
Dass Faeser und FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann stärker gegen die Urheber von Hassmails und Drohbriefen vorgehen wollen, wertet der DJV als „ermutigendes Zeichen nach Jahren der Apathie“. Horst Seehofer, CSU-Innenminister bis 2021, habe „kein einziges Mal“ öffentlich Position für die Gewaltopfer bezogen. Und von der damaligen SPD-Justizministerin Christine Lambrecht sei auch „wenig bis gar nichts zu hören“ gewesen, wenn Journalistinnen und Journalisten am Grundrecht der Pressefreiheit gehindert worden seien.
Das Ende des Staunens
Die Mechanismen der „Lügenpresse“-Emotionen scheinen entschlüsselt. So zeigt sich für den Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen eine „eigenwillige Mischung aus Totalzweifel und Wahrheitsemphase“, bei der die Betroffenen pauschal an der Berichterstattung der Medien zweifelten, niemals aber an den Ergebnissen eigener Recherchen. Sie empfänden freie Medien als Teil eines vermeintlich unterdrückerischen Staatssystems und entzögen sich einer sachlichen Debatte, indem sie den vermeintlichen Gegner entlarven: „Alles ist bloß Chiffre und Zeichen, ist Indiz von Propaganda und Manipulation“, schrieb Pörksen in seinem Essay „Der Hass der Bescheidwisser“. Inzwischen weicht das rätselnde Staunen über die Mediendiffamierung einer gewissen politischen Entschlossenheit, das Phänomen zu bekämpfen und die weitere Radikalisierung zu entschleunigen.
„Gewalt gegen Polizisten oder Journalisten dürfen wir als Rechtsstaat unter gar keinen Umständen hinnehmen“, sagte FDP-Justizminister Buschmann in einem Interview. Im Konkreten bleibt es jedoch vage. Die Versuche der Bundesregierung, zumindest den Betreiber der Plattform Telegram mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten in die Pflicht zu nehmen, laufen bislang ins Leere. Das Bundesamt für Justiz hatte 2021 zwei Bußgeldverfahren gegen Telegram eingeleitet. Der Ausgang ist offen.