„Gänsehaut um Mitternacht“ – ein Vorbote von Halloween bei Netflix
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Da ist noch ein Kellergeschoss unter der offiziell tiefsten Etage des Hospizes: Die Mitglieder des „Midnight Club“ im Gruselaufzug (v. l. Iman Benson als Ilonka, Igby Rigney als Kevin, Annarah Cymone als Sandra, Ruth Codd als Anya, Adia als Cheri, Chris Sumpter als Spencer, Aya Furukawa als Natsuki und Sauriyan Sapkota als Amesh. Szene aus der Serie „Gänsehaut um Mitternacht“. Foto: Eike Schroter/Netflix © 2022
© Quelle: EIKE SCHROTER/NETFLIX
Schatten huschen über die Flure des alten Hauses, kriechen an den Wänden entlang und wachsen an der Wand zu spinnenhaft-verzerrten Figuren. Manchmal sitzen – Spoilerfans sollten jetzt unbedingt weiterlesen – auch plötzlich Leichname mit schwarzen Augen auf den Betten, kein angenehmer Anblick, so viel steht fest. Und zuweilen sieht die Wirklichkeit in der neuen Netflix-Gruselserie „Gänsehaut um Mitternacht“ plötzlich sepiaweiß aus wie in einem Stummfilm und man hört einen näselnden Sänger, der aus den Tagen der Schelllackplatten herübersingt.
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Die Vergangenheit und die Gegenwart durchdringen einander im Brightcliffe, einem malerischen Landhaus irgendwo in den Vereinigten Staaten von Amerika. Horrorfilmfans kennen solche düster schillernden Orte. Ähnlich war es auch um das berühmt-berüchtigte Overlook von Stanley Kubricks „Shining“ bestellt. Ein Hotel, das sich auf einen Berggipfel schmiegte wie ein geducktes Raubtier.
Helden ohne Zukunft – Die „Austherapierten“ erzählen einander Unheimliches
Hierhin kommt Ilonka (Iman Benson), eine 19-Jährige, die Zweitbeste ihres Highschool-Jahrgangs, die eines Tages Blut hustet und die niederschmetternde Diagnose Schilddrüsenkrebs erhält. Nach gescheiterten Heilungsversuchen gilt sie als „austherapiert“, im Brightcliffe Hospiz trifft sie Anya (Ruth Codd), Kevin (Igby Rigney), Spencer (William Chris Sumpter), Sandra (Annarah Cymone), Chen (Adia) Natsuki (Aya Furakawa), und Amesh (Sarayah Sapkoti), weitere Todgeweihte, die es ertragen müssen, dass sich die Zukunft von ihnen abwendet und sich vor ihnen verschließt.
Sie haben den „Midnight Club“ gegründet, treffen sich um Mitternacht, um sich unheimliche Geschichten zu erzählen. Geschichten mit Mördern, Monstern und Gespenstern, in die sie ihre Ängste packen, ihren Selbsthass und ihre Wut auf eine Welt, von der sie sich auf mannigfaltige Weise verlassen fühlen. Sie haben einen Pakt geschlossen: Wer immer von ihnen als Erste(r) ins Jenseits muss, der informiert die anderen über das Wesen jenes Ortes informiert oder vermittelt ihnen zumindest durch ein untrügliches Zeichen, dass es woanders für sie weitergeht.
Horror mal anders – Vor allem die Dialoge sind ziemlich gruselig
Netflix-Spuk-Spezialist Mike Flanagan hat den Kultroman „Die Mitternachtsfreunde“ des Schriftstellers Christopher Pike (ein Künstlername, geliehen vom Vor-Kirk-Captain des Raumschiffs Enterprise) aus den Neunzigerjahren in eine Serie verwandelt. Mit „The Midnight Club“ – so der Originaltitel – betritt Flanagan zum ersten Mal das spätestens seit „Stranger Things“ (seit 2016) äußerst lukrative Subgenre des Jungerwachsenenhorrors. Der Club der sterbenden Dichter, den Tod bekämpfend, ausblendend, soll vom Publikum ins Herz geschlossen werden.
Was dem Ensemble bislang eher unbekannter Jungschauspielerinnen und -schauspieler allerdings durch die oft platten und pathetischen Dialoge erschwert wird. Es quillt das gesprochene Wort: „Ich werde mit den Glühwürmchen tanzen“, sagt Ilonka. Das hat immerhin was Romantisches. „Irgendwie ist Sterben eine echt miese Ausrede fürs Nicht-Leben-Wollen“, sagt Kevin. Ernsthaft?
War das Brightcliffe einst Sitz einer Sekte?
Ilonka weiß alles über das Haus, als sie ankommt. Sie will nicht sterben, sie hofft auf ein Überleben. Denn sie hat von Julia Jayne gehört, einem Mädchen, das in den späten Sechzigerjahren geheilt aus Brightcliffe herauskam. Ihr Graben in der Vergangenheit führt sie an unheilvolle Abgründe. Unter ihrem Bett findet Ilonka einen Hexenstern. Ein Sanduhr-Symbol taucht immer wieder auf, ein Aufzug fährt in einen vergessenen Keller, eine seltsame Frau wandert durch die Wälder.
War das Brightcliffe etwa einst das Versammlungshaus einer Sekte? Ein Thema, das im Sektenland USA von „Rosemaries Baby“ (1968) bis „Hereditary“ (2018) schon zahllosen Horrorfilmen eine erzählerische Basis gab – bei weitem nicht immer so geglückt wie in den vorgenannten Beispielen.
Die in nächtlicher Gemeinschaft ausgebreiteten Mitternachtsgeschichten bringen Farbe in die nur mählich vom Fleck kommende Hauptgeschichte. Sie werden für den Zuschauer als Filme im Film inszeniert, in denen die Klub-Mitglieder ebenfalls die Hauptrollen spielen. Da ist die Geschichte eines Jungen, dem sein Heimweg eines Nachts unbekannt vorkommt und den Leute aus den Fenstern der Häuser so bedrohlich angrinsen, als seien sie aus Parker Finns jüngst im Kino angelaufenem Schocker „Smile“ herübergewechselt. Da ist die Geschichte eines Jungen, der von einem Spieledesigner die Möglichkeit bekommt, ein noch unveröffentlichtes Weltuntergangsspiel zu gewinnen. Und die eines jugendlichen Mörders, um den herum die Geister der von ihm Getöteten anklagend schreien, was das potenzielle nächste Opfer indes nicht sehen kann. Und, und, und.
Der Horror der Bilder ist wenig originell
Die meisten der Hospizbewohnerinnen und -bewohner sehen bei alldem wie das blühende Leben aus, so als seien sie die Stars in irgendeiner munteren Teenie-Seifenoper. Was die Publikumseinfühlung doch ein wenig erschwert. Allein Ruth Codd ragt aus dem Ensemble heraus – mit fiebrigen Augen und bitterem Mund spielt sie überzeugend das Siechtum von Ilonkas Zimmergefährtin in Brightcliffe, der an den Rollstuhl gefesselten wachsbleichen Anya, auf der ein Berg von Schuld lastet. „Ich habe meine Eltern getötet“, gesteht sie Ilonka.
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Am Ende enttäuscht „Gänsehaut um Mitternacht“ auf ureigenstem Feld. Der versierte Horrorregisseur Flanagan, der mit „Spuk in Hill House“ (2018) ein Juwel des Creep-TV schuf, hat mit „Spuk in Bly Manor“ (2020, nach Henry James‘ „Die Drehung der Schraube“) und „Midnight Mass“ (2021) nicht mehr an die Qualität der ersten Serie anknüpfen können. An „Gänsehaut …“ nun ist nichts Originelles auszumachen. Flanagan kommt mit ausgelutschten Tricks wie Kopfsilhouetten im Dunkel, in denen plötzlich rotglühende Äuglein aufblitzen. Und ein trunkenes Glockenspiel verleiht kinderliedhaften Melodien etwas Düsterverwunschenes. Alles schon zigfach gesehen und gehört.
Kitsch mit viel Sternengefunkel gibt‘s ganz zuletzt. Keine Frage, dass den Morituri im Hospiz auch noch der Beweis für ein „sweet hereafter“ gereicht wird. Was das ist, soll an dieser Stelle – aller Spoilerlaune zum Trotz – nicht verraten werden.
„Gänsehaut um Mitternacht“, Serie, zehn Episoden, von Mike Flanagan, mit Iman Benson, Igby Rigney, Ruth Codd, William Chris Sumpter, Adia, Annarah Shephard (ab 7. Oktober bei Netflix)