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Neue Serie von David E. Kelley

Ist der Ehemann ein Vergewaltiger? Netflix-Drama „Anatomie eines Skandals“ lässt zu wünschen übrig

Will man andeuten, dass eine Figur zwei Gesichter hat, fotografiert man sie am besten durch ein geschliffenes Fensterglas: James Whitehouse (Rupert Friend) in einer Szene von „Anatomie eines Skandals“ – einer Netflix-Serie, in der von erzählerischer Subtilität keine Rede ist.

Will man andeuten, dass eine Figur zwei Gesichter hat, fotografiert man sie am besten durch ein geschliffenes Fensterglas: James Whitehouse (Rupert Friend) in einer Szene von „Anatomie eines Skandals“ – einer Netflix-Serie, in der von erzählerischer Subtilität keine Rede ist.

Mann, Frau, zwei Kinder, Erfolg, Glück. Die Losung der Familie, die in London in einem guten Haus lebt: „Die Whitehouses gewinnen immer“ – das wird dem Nachwuchs schon am gemeinsamen Monopoly-Morgen eingebläut, bei dem Daddy allerdings ein paar hilfreiche Karten aus dem Ärmel zieht, der alte Schummler. James Whitehouse ist ein Lächeln auf zwei Beinen, überaus beliebter Volkstribun in der Regierung seines Studienfreundes und Premiers Tom.

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Auch mit Mami Sophie (Sienna Miller) ist James schon seit Studienzeiten zusammen. Es könnte nicht besser laufen, bis plötzlich doch etwas schiefläuft. Eine Affäre von James kommt ans Tageslicht. Für Sophie noch kein Grund zur Trennung, sie ist eine für gute und schlechte Zeiten. Dann aber wird aus dem Mediengewitter ein regelrechter Skandal – denn Olivia Lytton (Naomi Scott) behauptet, sie sei von James vergewaltigt worden. In sechs Folgen widmet sich Netflix der „Anatomie eines Skandals“.

Rupert Friend ist gut gewählt als öliger Attraktivo

Der Skandalträger ist mit Rupert Friend perfekt besetzt. Ein Prince Charming, der schon zu Beginn ein wenig ölig in seinen Ausreden und Entschuldigungen ist, sodass es zwar im Bereich des Möglichen liegt, dass er zu Unrecht beschuldigt wird, man seinen Beteuerungen aber auch niemals wirklich traut. Die Sache wird vom Familien- zum Justizdrama. Staatsanwältin Kate Woodcroft (Michelle Dockery) steht im Prozess aufseiten der Queen, ihre Freundin, die Anwältin Angela Regan (Josette Simon), versucht, bei der Jury für den Angeklagten zu punkten.

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„Boys will be boys“

Rückblenden in die Studienzeit fallen dann ganz klar zugunsten von Woodcroft aus. Es geht zu einer Abschiedsfeier in einem der erlauchten Colleges, wo die Burschenschaft der Libertines gewaltig über die Stränge schlägt. Statt den teuren Champagner zu trinken, gießen ihn die Söhne reicher Eltern einem Kameraden über den blanken Hintern. Die Upper-Class-Studenten, besoffen von Schnaps und Narzissmus, erlauben sich alles, sie kneten einer von dem Angriff schockierten Bedienung die Brüste, um dann lachend weiterzuziehen. Alles ist nur ein Witz, nichts für ungut, alles ist auch irgendwie erlaubt, die Gesellschaft wischt solche rabiaten Attacken mit dem lapidaren „boys will be boys“ beiseite.

An diesem Abend aber ist etwas passiert, weshalb Premier Tom seinen gestrauchelten Minister James später nicht einfach fallen lassen kann. Und noch etwas ist geschehen, das James‘ Situation auf der Anklagebank bald noch schwieriger machen wird.

Gewalt gegen Frauen ist ein zentrales Thema bei David E. Kelley

Gewalt gegen Frauen ist bei dem erfolgreichen US-Serienmacher David E. Kelley ein wiederkehrendes Thema, das auch seine besten Serien „Big Little Lies“ (2017–2019) und „The Undoing“ (2020) prägte. In „Big Little Lies“ war der aparte Alexander Skarsgard ein notorischer Frauenschläger, in „The Undoing“ geriet Englands Filmschwiegersohn Nummer eins, Hugh Grant, in den Verdacht, seine Geliebte getötet zu haben.

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Steht zu Beginn loyal zu ihrem Ehemann: Sophia Whitehouse (Sienna Miller) will die Familie trotz der Affäre von James zusammenhalten.

Steht zu Beginn loyal zu ihrem Ehemann: Sophia Whitehouse (Sienna Miller) will die Familie trotz der Affäre von James zusammenhalten.

In „Anatomie eines Skandals“ nun ist Rupert Friend einer von jenen Kerlen, die in elitärer Arroganz auch bei einer massiven Ablehnung zudringlich bleiben, einer von den Männern, die glauben, dass, wenn ihr fabelhaftes Gemächt nur erst einmal bei der Arbeit ist, jeder vorherige weibliche Widerstand sich schon in Zustimmung verwandelt. Der Vorwurf einer Vergewaltigung trifft James schwer, nie, so schwört er, würde er in eine Frau gegen deren Willen eindringen.

Und möglicherweise glaubt der von sich eingenommene Mann seine Schwüre sogar. Die Zeiten allerdings, in denen die Scham automatisch auf die Seite der Opfer fiel und die Täter davonkamen, sind vorbei. Aus „Boys will be boys“ ist #MeToo geworden.

Miller und Friend spielen eindrucksvoll und überzeugend

Sienna Miller ist eindrucksvoll als Gattin, die trotz der schmerzenden Enthüllungen alles tut, um loyal bleiben und ihre Familie erhalten zu können, und die doch erleben muss, wie ihr der vermeintlich vertrauteste Mensch fremder und fremd wird. Er sei doch ein „guter Mann“, will sie von ihrem Kindermädchen Krystyna wissen. „Er ist ein Mann“, stellt diese klar.

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Auch „Homeland“-Star Friend spielt ebenso überzeugend einen Mann, der dieser Entfremdung entgegenzuwirken versucht, und dabei doch die Ehrbarkeit seines Charakters immer stärker infrage stellt.

Der Twist ist unglaubwürdig und wirklichkeitsfremd

Nicht alle Figuren sind so elaboriert. Manche bleiben blass, andere sind geradezu karikaturesk verzerrt. Schwächen in der Charaktergestaltung waren bereits in der Buchvorlage von Sarah Vaughan auszumachen, aber man hätte gedacht, ein Serienmeister wie Kelley wäre in der Lage, Notwendiges hinzuzufügen – etwa die wichtige Rolle der Anklägerin Olivia Lytton (Naomi Scott) über den Gerichtssaal hinauszuführen.

Wobei: Ein wahrer Maestro des Qualitätsfernsehens hätte auch einen anderen Twist gewählt. Für die überraschende Kehrtwende der Story wurde im Fall von „Anatomie eines Skandals“ vorab mächtig getrommelt. Und dann ist der Twist so unglaubwürdig und aufgesetzt, so absolut idiotisch wirklichkeitsfremd, dass man sich schier mit der Hand vor die Stirn schlägt. Un. Fass. Bar. Da man zu diesem Zeitpunkt allerdings schon vier der sechs Folgen hinter sich hat, bleibt man noch bis zum Urteil dabei.

Die Kameraarbeit ist ein Riesenproblem bei dieser Serie

Und das, obwohl Regisseurin S. J. Clarkson (u. a. „Jessica Jones“, „Dexter“) und vor allem Kameramann Balazs Bolygo via Optik einiges dafür tun, um die Zuschauer und Zuschauerinnen früh zum Serien-Switchen zu bringen. In den ersten Episoden hat man das Gefühl, dass es dem Briten überhaupt nicht möglich ist, die Kamera auch nur einmal gerade zu halten. Sobald Emotionen im Spiel sind, und das sind sie hier fast immer, wird die Perspektive geradezu penetrant gekippt oder komplett auf den Kopf gestellt. Das ist nervtötend.

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Einmal schwebt Sophie Whitehouse aus heiterem Himmel schwerelos durch den leeren (in der Sekunde davor noch voll besetzten) Gerichtssaal. Und als James Whitehouse durch Ermittler erfährt, dass er angeklagt werden wird, fliegt er im nächsten Moment auf offener Straße und ohne dass ihn irgendwer berührt hätte, zwei Meter nach hinten. „Was boxt da unsichtbar?“, fragt sich der erschrockene Zuschauer. Der Geist von #MeToo? Gott? Bolygo, das ist klar, will illustrieren, dass den beiden der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Und das tut er per Wink mit zehn Zaunpfählen zugleich.

Von einem Anatom aber erwartet man Subtilität.

„Anatomie eines Skandals“, Miniserie, sechs Episoden, von David E. Kelley, Regie: S. J. Clarkson, mit Sienna Miller, Rupert Friend, Michelle Dockery (streambar bei Netflix)

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