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Sammelbecken für Radikale: Warum ist Telegram so erfolgreich?

Der Telegram-Messenger gilt als Whatsapp-Alternative.

Der Telegram-Messenger gilt als Whatsapp-Alternative.

Hannover. Xavier Naidoo hat eine, Attila Hildmann hat eine und neuerdings sogar Michael Wendler. Die Rede ist von Gruppen beim Messenger Telegram. Galt die Plattform vor einigen Jahren noch als harmlose Whatsapp-Alternative, so gerät der Messenger inzwischen immer häufiger in die Negativschlagzeilen – zur Zeit vor allem, wenn es um Verschwörungstheorien geht.

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Als die ersten bizarren Videos des Sängers Xavier Naidoo durchs Netz gingen, in denen er rassistische Botschaften sang und über Corona-Verschwörungen fantasierte, da verbreiteten sich diese zuallererst bei Telegram. Als Vegan-Koch Attila Hildmann in Richtung “Neue Weltordnung” abdriftete, da rief er seine Gefolgschaft auf, doch bitte seine Telegram-Gruppe zu abonnieren. Und als Michael Wendler am Donnerstagabend seinen Ausstieg aus der vermeintlich “gleichgeschalteten” Medienbranche bekannt gab, bot er zugleich eine Alternative an: Eine Gruppe beim Messenger Telegram.

Grob gesagt hat jeder Verschwörungstheoretiker, der etwas auf sich hält, inzwischen eine eigene Gruppe bei dem umstrittenen Messenger. Auch Eva Herman. Oder Nuoviso – und natürlich auch Ken Jebsen. Gerade in der Corona-Krise scheinen der Messenger und seine fragwürdigen Gruppen geradezu zu boomen. Doch warum ist das so?

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Eine Frage der Verschlüsselung

Ein Grund sind zunächst einmal die technischen Möglichkeiten des Messengers. Anders als bei Whatsapp ist es hier problemlos möglich, Nachrichten an mehrere Tausend Nutzer gleichzeitig zu senden – diese müssen dafür nur die Gruppe des jeweiligen Senders abonnieren. Bei Whatsapp ist genau das nicht erwünscht: Die sogenannten Broadcast-Listen sind auf 256 Empfänger begrenzt, externe Newsletter-Dienstleister unterbindet der Messenger seit einigen Monaten.

Zum anderen gilt Telegram als sehr sicher. Bereits seit Jahren wirbt der Messenger für seine Verschlüsselung, die allerdings mehr Schein als Sein ist: Chats sind nämlich nicht automatisch verschlüsselt, dafür muss die Funktion “Secret-Chats” aktiviert werden. Doch selbst bei aktivierter Funktion ist völlig unklar, wie gut die Verschlüsselung des Dienstes wirklich ist: Sie basiert nämlich, anders als bei anderen Messengern, nicht auf einem vorgefertigten Standard, bei dem sich dies überprüfen ließe.

Auch der Sitz des Unternehmens und der Standort der Server ist weitestgehend unklar – das Entwicklungsteam befindet sich nach eigenen Angaben in Dubai.

Russische Netzwerke boomen bei radikalen Gruppen

Die beiden russischen Telegram-Gründer Pavel und Nikolai Durov genießen bei ihren Nutzern aber offenbar einen Vertrauensvorschuss: Pavel Durov entwickelte auch bereits das russische Facebook-Pendant V-Kontakte. Dieses ist wegen seiner laxen Moderationslinien längst ein Sammelbecken für radikale Gruppen, auch aus Deutschland. Seiten, die Facebook wegen Verstoßes gegen die Community-Richtlinien sperrte, fanden bei V-Kontakte eine neue Heimat.

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Ein ähnliches Muster zeichnet sich auch bei Telegram ab: Während Whatsapp, das zum Internetriesen Facebook gehört, kürzlich ankündigte, verschwörungstheoretische Corona-Kettenbriefe verhindern zu wollen, feiern diese bei Telegram Hochkonjunktur. Gelöscht wird hier praktisch nichts.

Doch Telegram ist bei Weitem nicht nur eine Plattform für Verschwörungstheoretiker. Schon seit Jahren gehört der Messenger zu den Lieblings-Apps diverser radikaler Gruppen. Vor einigen Jahren beispielsweise rekrutierte der “Islamische Staat” (IS) über Telegram-Gruppen seine Mitglieder, nachdem Twitter angefangen hatte, Propaganda-Posts zu löschen.

Bei Telegram hingegen konnte die volle IS-Propaganda verbreitet werden, oftmals sogar mit Hinrichtungsvideos und allerhand anderen Grausamkeiten. Schon damals stand der Messenger in der Kritik, weil er kaum Maßnahmen ergriff, um junge Nutzer davor zu schützen.

Rechtsextreme schmieden Pläne für den Umsturz

Wenig später sprangen dann auch die radikalen Rechten auf den Zug auf und nutzen seither Telegram für ihre Aktivitäten. Ihnen kommt zugute, dass Telegram-Gruppen – sofern sie nicht öffentlich verbreitet werden – in der Regel geheim sind und die Empfänger ihre Namen kennen müssen. So kann in Gruppen mit Tausenden Mitgliedern alles mögliche verbreitet und geplant werden, ohne dass die breite Öffentlichkeit davon etwas mitbekommt.

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Das Portal “Buzzfeed-News” hatte im vergangenen Jahr Einblick in diverse Gruppen bekommen und schreibt in seiner Recherche von Gewalt- und Umsturzfantasien sowie Untergangsszenarien, die dort am laufenden Band propagiert werden. In den Gruppen seien mehrere bekannte Neonazi-Größen aktiv. Doch auch öffentliche Gruppen gibt es bei Telegram. So hat allein der Kanal von Martin Sellner, Gesicht der Identitären Bewegung, mehr als 57.000 Mitglieder. Hier postet er täglich Texte, Videos und Bilder.

Miro Dittrich, Experte für Extremismus im Internet bei der Amadeu-Antonio-Stiftung, hatte dem MDR im März erklärt: “Telegram ist für Rechtsextreme so attraktiv, weil dort quasi nichts gelöscht wird. Das heißt, man kann dort Hakenkreuze posten, den Holocaust leugnen oder zum Genozid aufrufen. Andererseits sehen wir dort auch direkte Mordaufrufe mit Bildern von Personen.”

Zudem verspricht Telegram den “Schutz der privaten Konversationen vor Dritten, beispielsweise Behörden”. Tatsächlich stehen die Betreiber seit jeher im Konflikt mit russischen Sicherheitsbehörden, weil sie keine Daten an Regierungsbehörden weitergeben wollen. User können zudem die eigene Handynummer verschlüsseln.

1,5 Millionen neue Nutzer pro Tag

Diese Sicherheit ermutige viele Rechtsextreme, sagte Dittrich dem Sender: “Die Leute haben überhaupt nicht das Gefühl, dafür belangt zu werden. Sie müssen keine Angst haben, dass die Plattform sie sperrt. Deswegen sehen wir dort, wie enthemmt die Leute wirklich sind, die sich oft online auf anderen Seiten zusammenreißen müssen, um gemäßigter zu sprechen.”

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Während der Corona-Krise erlebt der Messenger Telegram nun einen ganz besonderen Boom. Die Entwickler sprachen selbst von zeitweise 1,5 Millionen neuen Nutzern am Tag zu Hochzeiten der Pandemie im Frühjahr. Im April verkündete das Unternehmen, man habe die Marke von 400 Millionen aktiven Nutzern geknackt. Im Vorjahr lang sie noch bei 300 Millionen – und ein Ende des Wachstums ist vorerst nicht in Sicht.

Die allerwenigsten dieser neuen Nutzer dürften radikale Rechtsextreme oder Verschwörungstheoretiker sein. Doch einmal auf der Plattform angemeldet, ist der Weg in ihre Gruppen nicht mehr weit. Und dass sich daran etwas ändern wird, ist nicht absehbar.

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