Wenn’s bloß mal super wär’ im Supermarkt: Krieg der Filialen in Comedyserie „Die Discounter“
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Kuss der Erleichterung: Jonas (Merlin Sandmeyer, r.) hat sich zu einem großen Opfer bereiterklärt, um seinen Filialleiter Thorsten (Marc Hosemann) vor der Entlassung zu bewahren. Szene aus der Serie „Die Discounter“.
© Quelle: Amazon Prime Video
Wenn man Filialleiter Thorsten eine Weile beim Nichtstun zusieht, wenn man zudem hört, was er so alles an wild gequirltem, wichtigtuerischen und dabei banalen Wortgewaber von sich gibt, befallen einen – sofern man alt genug ist – wehmütige Erinnerungen an die letzten Jahre der kleineren Lebensmittelläden.
Damals in den Sechzigerjahren erschienen deren Inhaber und (vornehmlich) Verkäuferinnen in ihren weißen Kitteln und ihrem heiligen Ernst gegenüber Milch und Mehl so seriös wie der Onkel Doktor, der mit wehendem Mantel zum Fieberlindern auf Hausbesuch kam. Eine kleine Mannschaft, die über Qualität und Wirkung ihrer Waren genauestens Bescheid wusste, die immer freundlich abwog und in Papiertüten packte, die die Kundschaft beriet und den Kindern an Mutterns Rockzipfel einen geduldsverlängernden Schokokeks aus großen Keksgläsern fischte.
Es war eine wohlgeordnete Regalwelt, in der halt nur manchmal etwas „aus“ war und bestellt werden musste. All das endete, als der Supermarkt mit seinen endlos scheinenden Vorräten selbst in größeren Dörfern Einzug hielt und die persönliche Beziehung des Verkäufers oder der Verkäuferin zum Kunden und der Kundin und umgekehrt lockerte. Man fand Tante Emma und Onkel Ernst besser und verriet sie trotzdem. Ans Sonderangebot.
Ein Kamerateam beleuchtet den Alltag der Arbeitsscheuen
Man muss zu Beginn der Vorstellung der neuen Amazon-Serie „Die Discounter“ (bereits streambar) gestehen, dass man kein derart verkommenes Verkaufsteam kennt wie das, das einem in dieser von Christian Ulmen produzierten Serie begegnet. Sonst würde man wohl ab sofort seine Lebensmittel im Internet ordern. Ulmen, der selbst nicht mitspielt, hält sich an das Mockumentary-Prinzip à la „Stromberg“: Ein unsichtbares Kamerateam scheint den Alltag in einer von drei Filialen von „Feinkost Kolinski“ festzuhalten – alles, was sich im Verkaufsraum, an den Kassen, auf dem Parkplatz und hinter den Kulissen abspielt.
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Etwa im Kühlraum, wo die kesse Flora (Rapperin Nura Habib Omer), die auch in der Serie eigentlich Rapperin werden will, ihre Hitze durch Tenminutestands mit Lieferanten abkühlt. Ihre Haltung zum Arbeitgeber: „Fick den Supermarkt, wo du kannst!“ Ihre Haltung zur Kundschaft: „Die hassen uns, wir hassen die!“ So gibt sie einer Frau zwei Euro zu wenig heraus und steckt sie dem neuen Azubi Titus („Discounter“-Co-Autor Bruno Alexander) zu. Das sei Trinkgeld – und ja wohl das Mindeste. Immer wieder wenden sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von „Kolinski-Altona“ in Einzelstatements an die Kamera, um darzulegen, wie sie ihre kleine Welt sehen.
Filialleiter Thorsten hat Angst vor dem Abstieg
Wie soll man als Zuschauer oder Zuschauerin einen wie Thorsten Krause (der fantastische Marc Hosemann) lieben, der wenig Ahnung von dem hat, was er tut, der irgendwie Filialleiter geworden ist, diese Position aber auf Teufel komm raus beibehalten würde – worin er ganz nah bei dem beruflich ähnlich ahnungslosen Versicherungspendant Stromberg ist.
Thorsten hat Angst vorm Abstieg. Die ist durchaus berechtigt. Wer bei den drei Kolinski-Filialen auf Platz drei gelandet ist wie er, kann ganz schnell ausgetauscht werden. Die größte Angst: „Sabine kommt!“ Aufatmen, als am Ende statt der Chefin nur deren rechte Hand erscheint: „Die Zahlen sehen aber nicht gut aus“, bescheidet indes auch sie dem nervösen Thorsten. Der in den kommenden Episoden allerhand Unanständiges und Unsinniges anstellen wird, um gegen die beiden Konkurrenzmärkte zu punkten. Sein dunkelstes Geheimnis – die Veruntreuung von 15.000 Euro – droht dabei alle 16 bis 20 Minuten (so lange dauert eine Episode) aufzufliegen.
Man tut sich erst mal schwer, diese Kindsköpfe und Loser zu mögen
Und soll man Peter (Ludger Bökelmann) mögen, der sich für einen unbezwingbaren Womanizer hält und zugleich an einem gravierendem Bildungskomplex leidet? Soll man sich für Samy (David Ali Rashed) erwärmen, einen Schönling, der bei den Frauen gelegentlich Erfolge verzeichnet, aber vor lauter Faulheit fast vom Gabelstapler fällt? Den alten Witwer Wilhelm, der wie ein Gespenst im Pfandlager unterwegs ist? Die misanthropische Sexbestie Flora? Den komplett schusseligen Sicherheitsmann Jonas (Merlin Sandmeyer), den sogar der wenig patente Thorsten für „embryonenhaft lebensunfähig“ hält? Die wurstige Lia (Marie Bloching), die verhuschte Pina (Klara Lange)?
Das sollen sie also sein, beispielhaft für die Heldinnen und Helden von Corona, für die auf Balkonen geklatscht wurde, die Tapferen, die sich bis heute an vorderster Front dem riskanten Affentheater der Impfunwilligen aussetzen, sich für eine Handvoll Euro selbst gefährden, um die Versorgung der Republik sicherzustellen? Echt jetzt?
Nun, um es klarzustellen: Die Ereignisse in „Die Discounter“ finden zwar sichtbar gegenwärtig statt, aber dennoch in einem Paralleluniversums-Deutschland, in dem Corona kein Thema ist. Niemand trägt hier eine Maske, niemand wahrt pandemische Mindestabstände. Irgendwie ein anderer Planet.
Eine Maus für die Gegner von „Kolinski Eimsbüttel“
Und ist das der Supermarkt 2021? Den Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen und Kundschaft nach allen Regeln der Kunst beklauen? In dem alle gleichzeitig ihre Rauchpause abhalten, während drinnen die Leute in der Kassenschlange festwachsen? In dem Skater aus Waren Hindernisse bauen, über die sie dann mit ihren Rollbrettern in den Regalfluren hinwegspringen? In dem unter Kühltruhen Mäuse an Pizzakartons nagen? Und in dem man die gefangenen Mäuse den Konkurrenten von „Kolinski Eimsbüttel“ unterzujubeln versucht, damit die auf den Listenplatz drei rutschen? Krieg der Filialen.
Erzählt wird allerdings neben diesen Gefechten auch noch, wie aus scheinbar unvereinbaren Individuen eine Gemeinschaft entsteht. Das ist in Serien gemeinhin eine muckelige Angelegenheit, in den ersten der zehn Episoden speziell dieser Serie aber nur lustig, wenn man sich auch an Deprimierendem vergnügen kann und die Niedergangsstimmung eine Weile erträgt, was derzeit ja nicht so ganz einfach ist.
So viel sei verraten: Man verliebt sich doch in dieses Panoptikum komödiantisch schwer überspitzter Alltagsfiguren, die herrlich improvisierte Texte palavern. Mit dem blonden Titus fängt das an, als der ein nettes unmoralisches Angebot charmant annimmt. Lia und Pina erscheinen schon früh als Identifikationsangebote – als die Stimmen der Vernunft im kindergartenhaften Kolinski-Chaos. Und bald darf auch die Machokatastrophe Peter mit einem Kuss zur rechten Zeit beweisen, dass er ein gutes Herz hat.
Zur Serienhälfte verflüchtigt sich die Bingedepression
Und die libidinöse Bestie Flora, vor der man ehrlich gesagt ein wenig Angst hat, verpasst einem Fußballchauvi, dem es peinlich ist, für seine Freundin Tampons zu bezahlen, einen unvergesslich-unappetitlichen Denkzettel – Kasse mit Klasse. Ab Episode fünf hat sich unsere (auch von „Stromberg“ her nicht ganz unbekannte) Bingedepression verflüchtigt, ohne dass wir so richtig bemerkt haben, wie das passiert ist. Wir wippen mit dem Fuß zu der funkigen Wischiwaschititelmusik, in die quasirhythmisch ein elektronisches Kassenpiepen eingebaut ist.
Fahri Yardim, neben Ulmen Hauptdarsteller in „Jerks“, spielt auch in dieser der niederländischen Produktion „Vakkenfullers“ nachempfundenen Serie sich selbst als Unsympathen. In einem kurzen Gastauftritt sortiert er sich Bioeier in einen Karton mit billigeren Bodenhaltungseiern, was sogar dem promiaffinen Detektiv Jonas zu viel wird.
Und die große Doris Kunstmann gibt der Serie als Kassiererin Frau Jensen eine Bodenhaftung, wie sie die weit weniger schrille amerikanische Serie „Superstore“ (2015–2021) aufwies. Sie rappt über den Job und die Träume von was anderem. Und als die Feier zu Thorstens 20-jährigem Filialleiterdasein mit allgemeiner Trunkenheit endet, hätte man sich über eine zehnte Episode gefreut. Die aber ist ein „Making-of“, in dem die Macher erzählen, wie sie’s gemacht haben. Auch super!
„Die Discounter“, zehn Episoden, von Emil und Oskar Belton, Bruno Alexander, mit Marc Hosemann, Bruno Alexander, Marie Bloching, Nura Habib Omer, Doris Kunstmann (streambar bei Amazon Prime Video)