„Wir brauchen mehr Empathie für die Opfer“: Medienforscher Pörksen über den Tod von Kasia Lenhardt

„Eine tiefe, ungeheuer schmerzhafte Demütigung des eigenen Selbst“: Model Kasia Lenhardt bei einem Fototermin in Berlin.

„Eine tiefe, ungeheuer schmerzhafte Demütigung des eigenen Selbst“: Model Kasia Lenhardt bei einem Fototermin in Berlin.

Herr Pörksen, nach welchem Muster verläuft eine solche Boulevardschlammschlacht, wie sie Kasia Lenhardt erlebt hat? Was macht das mit einem Menschen?

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Das Wirkungsnetz aus Medien und digitalen Hassattacken führt bei den Betroffenen zu einem Gefühl der totalen Machtlosigkeit. Wir kennen aus der Skandalforschung Befunde, die zeigen: Ganz egal, ob man zu Recht oder zu Unrecht angegriffen wird – es ist eine Erfahrung tiefster Ohnmacht, die von der Dynamik her an die Sterbephasen erinnert, die die Nahtodforscherin Elisabeth Kübler-Ross beschrieben hat: Wut, Verzweiflung, Ohnmacht. Bei Kübler-Ross kommt am Schluss eine Art spirituelle Versöhnung und Akzeptanz des nahenden Todes hinzu. Bei Skandalisierungsopfern gibt es diese Versöhnung in der Regel nicht. Sie erleben die Attacken als tiefe, schmerzende Wunde, die nie wirklich heilt.

Was passiert da genau?

Im Grunde entsteht durch eine solche Skandalisierungsgeschichte eine Art digitaler Zwilling der Betroffenen im öffentlichen Raum, eine zweite Figur mit hässlicher Fratze, die zwar so heißt wie man selbst, aber als fremdes und doch öffentlich maßgebliches Zerrbild eine ungeheuer schmerzhafte Demütigung des eigenen Selbst darstellt.

Bernhard Pörksen,

Medienwissenschaftler

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Im Grunde entsteht durch eine solche Skandalisierungsgeschichte eine Art digitaler Zwilling der Betroffenen im öffentlichen Raum, eine zweite Figur mit hässlicher Fratze, die zwar so heißt wie man selbst, aber als fremdes und doch öffentlich maßgebliches Zerrbild eine ungeheuer schmerzhafte Demütigung des eigenen Selbst darstellt. Selbst wenn Sie bekannt und berühmt sind, haben Sie oft kaum Möglichkeiten der Gegenwehr. Sie können versuchen, das Feuer gleich am Anfang mithilfe eines Anwaltes auszutreten. Aber die Erfahrung des Kontrollverlustes bildet aus meiner Sicht den Kern des Problems. Eine solche Story ist von der Dynamik her oft ein Verbundprojekt, sie entsteht in einem Wirkungsnetz. Eine Boulevardzeitung attackiert, ein Fernsehsender legt nach, und die User und Stalker im Netz fangen an zu suchen, graben Telefonnummern aus und posten private Informationen.

„Wut, Verzweiflung, Ohnmacht“: Model Kasia Lenhardt 2018 bei einem Fototermin im Berliner KaDeWe.

„Wut, Verzweiflung, Ohnmacht“: Model Kasia Lenhardt 2018 bei einem Fototermin im Berliner KaDeWe.

Wie beurteilen Sie die Fähigkeit einer Redaktion, auch mal zu sagen: Das können wir so nicht machen?

Ein Boulevardjournalist wird eine in seinem Sinne gute Story sofort erkennen, sie passgerecht zuschneiden und dann quasi in ihr leben. Das zeigt auch die Amazon-Doku „Bild.Macht.Deutschland“ gut: Die Redakteure dort leben wirklich tief in ihren Storybildern und haben immer irgendwelche Hilfsargumente, um zu rechtfertigen, warum ein Thema von öffentlichem Interesse ist oder der Menschheit vermeintlich weiterhilft. Und zur Berufsbeschreibung des aggressiven People-Journalismus gehört auch, dass man das Gegenüber in seinem Schmerz kaum wahrnehmen kann. Das würde nur die Geschichte kaputt machen. Man bräuchte eine große Portion Grautönefeindlichkeit. Aber genau deren Fehlen ist die Voraussetzung für den Job. Sobald Sie anfangen, jemanden wirklich zu sehen in seiner Verletztheit oder mit seinen Fehlern, wird es fast unmöglich, ihn in eine Schublade zu packen. Auf einmal werden Nuancen und Hintergründe sichtbar – und die stören das Kontrastprinzip und die scheinbare Einfachheit der Rollenzuschreibung.

Zur Berufsbeschreibung des aggressiven People-Journalismus gehört auch, dass man das Gegenüber in seinem Schmerz kaum wahrnehmen kann. Das würde nur die Geschichte kaputt machen. Man bräuchte eine große Portion Grautönefeindlichkeit. Aber genau deren Fehlen ist die Voraussetzung für den Job.

Bernhard Pörksen,

Medienwissenschaftler

Skandalisierende Berichterstattung hat sich im Digitalzeitalter vervielfacht. Beobachten Sie eine neue Gnadenlosigkeit?

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Es ist ja in der Regel nicht so, dass sich ein Boulevardjournalist überlegt: Wie kann ich jemanden fertig machen? Das wäre zu einfach. Die Gnadenlosigkeit der digitalen Zeit ist vielmehr systemisch. Sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Storyschema und Resonanzerfolg. Sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel alter und neuer Medien, aus dem Wettlauf zwischen der vierten Gewalt und der fünften Gewalt, also der der vernetzten Vielen, die sich auf ein Thema setzen, entsteht eine systemische Brutalität. Die Situation ist selbst schon brutal. Jeder, der Hassattacken likt oder teilt, jeder, der hämisch kommentiert, hat daran seinen Anteil. Das gilt natürlich auch für denjenigen, der in der Redaktion sitzt und eine solche Geschichte groß zieht.

Wie kann sich eine Gesellschaft gegen mediale Aggressivität wappnen?

Wir brauchen mehr Empathie für Medienopfer. Und wer ist dies eigentlich nicht oder doch zumindest manchmal oder ein bisschen? Eigene schlechte Erfahrungen sind zumindest eine Verständnisbrücke in Richtung des Extrems. Und der Kampf gegen mediale Hetze und Cybermobbing ist eine der großen Lernaufgaben der Zukunft. Ich denke, dass es wichtig ist, die Mechanismen zu beschreiben. Leser müssen wissen: Hier geht es nicht um Wahrheit oder Unwahrheit, hier wird einfach eine Story exekutiert – mit der möglichen Folge, dass ein Mensch das Gefühl hat, ich komme da nie wieder raus. Wir müssen andere Geschichten erzählen – auch über Frauen wie Kasia Lenhardt. Und im Übrigen: Es ist eines der großen, noch unausgeleuchteten Themen der Medienwelt, wie systematisch selbstbewusste und gerade noch erfolgreiche Frauen aus den digitalen Öffentlichkeiten herausgemobbt werden. Die Geschichten des Hasses öfter aus der Sicht des Opfers zu erzählen – das wäre eine wichtige Sensibilitätsschule.

Wir Menschen sind möglichkeitsblind: Wir können uns die mögliche Wirkung unserer Postings, Likes, hämischen Kommentare und dahingesagten Äußerungen nicht vorstellen.

Bernhard Pörksen,

Medienwissenschaftler

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„Das Problem des kommentierenden Sofortismus“: Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.

„Das Problem des kommentierenden Sofortismus“: Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.

Soziale Medien machen es uns leicht, erste Reflexe ohne Nachzudenken gleich zu posten.

So ist es, das ist das Problem des kommentierenden Sofortismus. Und wir Menschen sind möglichkeitsblind: Wir können uns die mögliche Wirkung unserer Postings, Likes, hämischen Kommentare und dahingesagten Äußerungen nicht vorstellen. Hier kann die möglichst präzise erzählte Geschichte aus Opfersicht tatsächlich ein nützliches Korrektiv und eine Lernchance sein. Auf einmal sieht man den Anderen. Er ist nicht mehr nur ein Boulevardhomunkulus, eine projizierte Figur in einer perfekten Storyline von Gut und Böse. Sein konkret beschriebenes Leiden setzt eine Spur in Richtung Empathie.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und ein renommierter Publizist für Fragen der Medienethik und Kommunikationsforschung. Zuletzt veröffentlichte der vielfach ausgezeichnete Medienforscher im vergangenen Jahr (mit Friedemann Schulz von Thun) das Buch „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“.

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