„Die Kritiker der Sachsen gehören auf die Couch“
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Der hallesche Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz (75, „Gefühlsstau“) spricht Klartext zu Chemnitz und den Folgen.
© Quelle: Andre Kempner
Leipzig. Seit gut einer Woche dominieren die Ereignisse von Chemnitz die Öffentlichkeit. Die Stadt und Sachsen stehen am Pranger und müssen sich Vorwürfe gefallen lassen, dass sie nach einer tödlichen Messerattacke auf einen Deutschen die wütenden Reaktionen unterschätzt haben. Der hallesche Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz (75, „Gefühlsstau“) äußert sich im Interview zu den emotionalen Ursachen. Der Experte für die ostdeutsche Seele warnt davor, die Sachsen pauschal zu verurteilen und in die rechte Ecke zu stellen.
Herr Maaz, in Chemnitz haben tödliche Messerstiche auf einen Deutschen dazu geführt, dass eine Stadt emotional aus den Fugen geriet. Die Situation war und ist geprägt von Wut, Empörung und gegenseitigen Schuldzuweisungen. Hat Sie diese Gefühlsexplosion überrascht?
Nein, überhaupt nicht. Es war wie ein Pulverfass, es hat sich tatsächlich ein ,Gefühlsstau’ aufgebaut. Schwierige und ungelöste gesellschaftliche Konflikte durch die Migration und deren Folgen haben zu heftigen Affekten auf allen Seiten geführt. Die Tötung eines Menschen war nur der Anlass, um diese schon lange vorhandenen Gefühle ausbrechen zu lassen.
Mit Chemnitz steht auch Sachsen am Pranger als besonders anfälliges Land für rechtes Gedankengut. Was ist los mit den Sachsen, warum passiert sowas nicht woanders?
Ich finde es bedenklich, wenn die Vorfälle in Chemnitz jetzt auf die rechtsextreme Schiene geschoben werden. Beginnend mit den Feststellungen von Regierungssprecher Seibert, dass da Hetzjagden und Zusammenrottungen stattgefunden hätten. Nach allem, was wir jetzt wissen, stimmt das ja so gar nicht. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass ein umfassenderes Protestthema schnell in die rechtsextreme Ecke geschoben wird, um es damit ablehnen und diffamieren zu können.
Schwierigkeiten mit dem Flüchtlingsthema gibt es ja eigentlich an vielen Orten, aber nur in Sachsen kochen Wut und Empörung darüber so schnell hoch.
In Sachsen gibt es schon seit längerer Zeit verschiedene Proteste wie Pegida oder der Zulauf zur AfD. Für mich heißt das, dass die Kritik an der aktuellen Politik – besonders die Migration, der Umgang mit dem Islam und an der Euro-Politik – sowie die Unzufriedenheit mit den Folgen der Wiedervereinigung nach einer Ausdrucksform sucht. Ich halte besonders die Sachsen und die Ostdeutschen generell für wesentlich kapitalismuskritischer.
Wo kommt diese Einstellung her?
Noch aus DDR-Zeiten, wo das Lebensumfeld ja offiziell davon geprägt war, den Kapitalismus kritisch zu sehen. Da ist was hängen geblieben. Ostdeutsche sind auch kritischer gegenüber Obrigkeiten, auch da wirken die DDR und das SED-Regime nach. Es gab immer eine Skepsis gegenüber Aussagen von oben. Dieses Misstrauen war auch nach 1989 nie wirklich weg und mit der Migrations-Politik ist das wieder voll aufgeflammt.
Rein psychotherapeutisch betrachtet: Müssten die Sachsen alle auf die Couch, wegen emotionaler Überreaktionen bei Protesten mit Tendenz nach rechts?
Es ist genau andersrum. Die Kritiker der Sachsen gehören auf die Couch. Gerade im Westen herrscht überhaupt kein Verständnis gegenüber dem Protest, der aus Sachsen kommt. Ich will diesen Protest auch nicht nur gutheißen, er ist aber notwendig. Wenn man Proteste nur abkanzelt, so nach dem Motto ,mit denen rede ich nicht’, macht man einen großen Fehler. Der mögliche Wahrheitsgehalt, der in jedem Protest steckt, wird dann nicht mehr zur Kenntnis genommen.
Wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis?
Das sind Erfahrungen aus der sozialen Gruppentherapie. Wenn Menschen zusammen sind, gibt es immer Anführer, Mitläufer und Außenseiter, die Omegas. Und diese Omegas werden immer von den anderen beschimpft, bedrängt oder wenn möglich ausgegrenzt. Und zwar deshalb, weil der Außenseiter immer etwas verkörpert, was die anderen, die Mehrheit nicht wissen will. Die Verleugnung einer schwierigen Wahrheit ist aber für die Entwicklung einer Gruppe wie auch der Gesellschaft hochproblematisch, weil dann bittere Realitäten nicht mehr gesehen werden und damit auch nicht mehr hilfreich angepackt werden können.
Viele Medien sehen in Sachsen den Geist von Weimar wieder aufziehen. Der Spiegel hat auf seinem aktuellen Titel Sachsen unter Nazi-Generalverdacht gestellt. Was löst das bei den Menschen hier emotional aus?
Diese mediale Hetze gegen die Sachsen ist einfach verheerend. Oder andersrum betrachtet: Wollen denn diese Medien wirklich, dass die AfD in Sachsen noch stärker wird? Wer als Medium so reagiert, dem muss doch klar sein, dass er damit neuen Protest und Widerstand auslöst. Viele Menschen fühlen sich falsch eingeschätzt.
Aber Rechtsextremismus ist schon ein Problem in Sachsen.
Es gibt natürlich Rechtsextreme in Sachsen, leider. Aber die sind doch noch lange nicht die Mehrheit, sondern eine klare Minderheit. Die Mehrheit in Sachsen ist in der Mitte, die sich aber auch zunehmend von den Folgen der Migration bedroht fühlt. Wenn man die Mitte jetzt in die rechte Ecke stellt, sorgt man nur dafür, dass die AfD mehr Zulauf erhält.
Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) hat gerade von Angela Merkel gefordert, in Chemnitz Gesicht zu zeigen. Hat er recht? Jetzt hat sie eine Einladung der Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig angenommen und will in den nächsten Wochen kommen.
Die Kanzlerin hätte sofort nach Chemnitz fahren müssen. Wenn sie als erstes den Angehörigen des Opfers kondoliert hätte, wären viele Spannungen von vornherein abgebaut worden. Das wäre auch ein wichtiger Schritt zur Einsicht gewesen, dass die Migrationspolitik unter ihrer Regie bisher nicht optimal gelaufen ist. Diese Chance wurde vertan.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat zumindest versucht, vor Ort in Chemnitz die Wogen zu glätten. Wie bewerten Sie seine Auftritte?
Durchaus positiv, er hat sich dem Bürgergespräch gestellt. Es ging hoch her, offenbar war das Publikum in Chemnitz auch nicht ausgewählt. Das finde ich ehrenwert, das ist die richtige Haltung. Dagegen empfand ich den TV-Talk mit Anne Will als sehr unangenehm. Frau Will wollte ihn regelrecht vorführen. Er hat sich dann verteidigt, bis ihm der Kragen geplatzt ist. Das fand ich gut, weil klar wurde, dass man ihm etwas anhängen wollte.
Mit Chemnitz stehen auch wieder die Medien – darunter die LVZ – als Lügenpresse am Pranger. Wie lässt sich das gestörte Vertrauen wieder herstellen?
Beide Seiten, die jetzt in Chemnitz aufeinanderprallen, sollten abgebildet werden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass auf der einen Seite die Guten und auf der anderen die Schlechten stehen. Der ,Spiegel’ ist da gerade ein negatives Beispiel. Auch bei der Berichterstattung zum Beispiel Ungarn, Polen, Trump und Brexit muss es doch darum gehen, nicht nur über das Schlechte zu berichten, sondern sich auch zu fragen, was ist denn an einer anderen poliotischen Einschätzung und Haltung auch verständlich und richtig. Die andere Seite, die einem eben nicht gefällt, muss man auch zu Wort kommen lassen. Sonst ist tatsächlich der Vorwurf der ,Lückenpresse’ nicht von der Hand zu weisen.
Von André Böhmer
LVZ