Asyl-Kapazitäten: Überfordern die steigenden Flüchtlingszahlen Sachsen?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/HUB5U2BJPZHWPPMVO4QV7KCJ54.jpg)
Männer gehen auf einem Weg zu einer Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. In Sachsen wird angesichts der Entwicklung der Asylzahlen schon vor einer neuen Krise gewarnt. „Wir saufen hier ab“, sagt der Landrat des Erzgebirgskreis Rico Anton (CDU).
© Quelle: Christoph Schmidt/dpa/Archiv
Dresden. Vielleicht sind Turnhallen der beste Indikator, um zu ermessen, wie es um die Asylsituation in Sachsen bestellt ist. Die Bilder aus der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 sind in vielen Städten und Gemeinden präsent. Weil Unterkünfte damals fehlten, wurden irgendwann Immobilien herangezogen, in denen möglichst viele Menschen untergebracht werden konnten – eben auch Turnhallen. Der aktuellen Landesregierung gilt das inzwischen nahezu als Sündenfall. Niemand wolle mehr Asylbewerber auf diese Weise unterbringen, beteuert Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) immer wieder. Doch vor Ort wird aktuell anders gesprochen.
Die Wohnkapazitäten in den Kommunen gehen zur Neige, während gleichzeitig neue Geflüchtete Hilfe benötigen. „Wir finden im Erzgebirgskreis keine Immobilien mehr, die wir zu Gemeinschaftsunterkünften umfunktionieren können“, sagt Landrat Rico Anton (CDU). „Auch die noch am Markt vorhandenen, leer stehenden Wohnungen müssten von den Vermietern erst für zehntausende Euro renoviert werden, damit dort überhaupt jemand einziehen kann.“ Das finde aber aufgrund der hohen Baukosten nicht statt. „Ich versuche zu vermeiden, dass wir die Menschen in Turnhallen unterbringen. Aber es wird nach derzeitigem Stand Notunterkünfte geben müssen, in denen Feldbett an Feldbett steht.“
Sachsens Grenzen zählen 12.190 unerlaubte Einreisen bis einschließlich Juli
Der Freistaat bereitet sich derzeit darauf vor, dass in den nächsten Wochen noch einmal deutlich mehr Asylbewerber aufgenommen werden müssen. „In der aktuellen Situation rechne ich mit deutlich mehr Migranten als auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016“, sagt Innenminister Armin Schuster (CDU). 2022 wurden insgesamt 12.224 Asylanträge in Sachsen gestellt. Bis Ende August 2023 waren es bereits 9826 Anträge – und die Herbstmonate, in denen die Zugangszahlen meist spürbar anstiegen, stehen aus.
Auch an den sächsischen Außengrenzen zu Polen und Tschechien macht sich der Trend längst bemerkbar. 12.190 unerlaubte Einreisen zählte die Polizei bis einschließlich Juli in diesem Jahr. Ein Plus von mehr 142 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Angesichts der Lage warnte die Bundespolizei in Pirna schon vor einer Überforderung im Kampf gegen Schleuser. Innenminister Schuster klang vor zwei Wochen sogar frustriert: „Mittlerweile haben die Schleuser die Kontrolle darüber, was Richtung Deutschland passiert.“
Die Bundesinnenministerin geht nicht auf Sachsens Wunsch ein
Forderungen aus Sachsen, stationäre Grenzkontrollen einzuführen, kommt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) trotzdem nicht nach. In einem offenen Brief an die Ministerin urteilte der Görlitzer Landrat Stephan Mayer (CDU): „Das gegenwärtige Nichthandeln der Bundesregierung stellt eine substanzielle Gefahr für unser demokratisches Zusammenleben dar, da es die Bevölkerung überfordert und die Akzeptanz für schutzbedürftige Menschen zu schwinden droht.“
Es sind aber nicht allein CDU-Politiker, die ein Umdenken in der Asylpolitik verlangen. Auch aus der sächsischen SPD gibt es Wortmeldungen, die so verstanden werden: Man müsse Asylbewerber, die bleiben dürften, möglichst schnell integrieren, sagte Sozialministerin Petra Köpping vor Kurzem der „Taz“. „Genauso wichtig ist aber, dass die, die nicht bleiben können, Deutschland möglichst zügig wieder verlassen. Das ist wichtig sowohl mit Blick auf die Belastung der Kommunen als auch für die Akzeptanz in der Bevölkerung.“
Landrat Rico Anton: „Wir saufen hier ab“
Kurzfristig werden sich Abschiebungen in nennenswerter Zahl voraussichtlich nicht organisieren lassen. Wie also sollen die Kommunen entlastet werden? Der Puffer der Landesdirektion, die die Geflüchteten zunächst in den Erstaufnahmeeinrichtungen einquartiert, ist auch begrenzt. 2016 konnten in der Spitze 19.421 Menschen in der sächsischen Erstaufnahme aufgenommen werden. Damals wurden aber auch langfristig Objekte angemietet, die man später nicht mehr benötigte.
Aktuell verfügen die drei Erstaufnahme-Standorte in Leipzig, Dresden und Chemnitz über Plätze für 7843 Personen. Knapp 5500 davon sind laut Landesdirektion belegt. Das Innenministerium will zwar die Kapazitäten dauerhaft erhöhen, die Verhandlungen mit dem Finanzministerium über die notwendigen Kosten kommen aber seit Monaten nicht zu einem Ergebnis.
Allzu lange können die Flüchtlinge sowieso nicht in den Erstaufnahmen bleiben. Die Kreise und kreisfreien Städte müssen sie unterbringen. Was sie zunehmend vor Herausforderungen stellt. „Die Situation ist anders als 2015. Damals mussten wir bei Null anfangen: Wir hatten keine Gemeinschaftsunterkünfte, kein richtiges System. Aktuell konnten wir auf der geschaffenen Struktur eine ganze Weile aufbauen“, sagt Erzgebirgslandrat Anton. „Aber jetzt kommen wir in eine Situation, in der wir an unsere Grenzen stoßen. Es funktioniert nicht mehr. Es liegt nicht am guten Willen: Wir saufen hier ab.“
LVZ