Gauck als Mutmacher in Leipzig: Mehr Unterstützung für die Ukraine
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Bundespräsident a. D. Joachim Gauck appelliert in die LVZ-Kuppel für mehr Unterstützung für die Ukraine: „Wir müssen uns als Menschen achten können.“
© Quelle: Jonas Dengler
Leipzig. Keine Angst! Diese Botschaft sendet Joachim Gauck immerzu aus an diesem Abend. Keine Angst, sagt er den Zuschauern in der Kuppel der Leipziger Volkszeitung. Keine Angst, sagt er in Richtung der Regierenden. Keine Angst, sagt er den Deutschen, die sich in diesen Tagen so viele Sorgen machen: wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine, wegen der täglichen Krisen, wegen der Zukunftsangst. Der Bundespräsident außer Dienst plädiert dagegen für eine kritische Zuversicht: Die Deutschen sollten Verantwortung übernehmen.
„Besondere Neigung zur Ängstlichkeit“
„Deutschland hat eine besondere Neigung zur Ängstlichkeit, so wie es früher eine besondere Neigung zum Übermut hatte“, sagt Gauck. „Das äußert sich manchmal in einer Zurückhaltung, wo wir nicht zurückhaltend sein dürften.“ Er verfolgt in diesen Tagen genau, wie sich die Bundesregierung positioniert: Welche Waffenlieferungen hält sie für angemessen? Und welches Vorgehen gegenüber Russland? Gauck selbst hat schon als Bundespräsident bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahr 2014 dafür plädiert, dass die Bundesrepublik eine größere Verantwortung in der Welt übernehmen müsse – Militäreinsätze eingeschlossen. Aus seinem Anstoß sei bloß lange nichts gemacht worden, stellt er fest. Erst Russlands Überfall auf die Ukraine habe das verändert.
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Gauck appelliert inständig dafür, sich den Bitten der Ukraine nicht zu verschließen. „Wir müssen uns als Menschen, als Demokraten achten können. Können wir uns ausreichend achten, wenn wir beim Sterben und Abschlachten zuschauen?“ Entschieden wendet er sich gegen das Argument, dass Nichtstun eine Option sei, um so für Frieden zu sorgen. Diese Haltung empfinde das als „zynisch“.
Kritischer Blick auf Putin-Versteher
Mehrfach haben gerade in Ostdeutschland Regierungschefs die Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin gesucht. Der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) engagierte sich nach seiner Zeit in der Politik als Russland-Lobbyist, der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) traf den russischen Staatschef, Manuela Schwesig (SPD) war als Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern eine der glühendsten Verfechterinnen der Öl-Pipeline Nord Stream 2.
Joachim Gauck bei „RND vor Ort“: Die wichtigsten Momente im Video
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Als ehemaliger Bürgerrechtler blickt Gauck zwiegespalten auf das alles. „Es ist sehr schwer zu beurteilen“, sagt er. „Manchmal ist es weniger politisches Kalkül als Psychologie, die die Menschen leitet. Viele finden es dann angemessen, wenn der sächsische Ministerpräsident den Herrn Putin einlädt, doch wieder nach Dresden zu kommen. Andere empfinden das als überflüssig und peinlich.“ Matthias Platzeck habe „besonders deutlich gezeigt, wie man sich die Wirklichkeit schön gucken kann“.
„Wenigstens etwas tun, was uns schmerzt“
Im Grunde, erklärt Gauck, sei das alles eine falsch verstandene Ostpolitik, die sich in der Tradition des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt wähne. Wandel durch Annäherung sei vor 50 Jahren ein richtiger Politikansatz gewesen. „Es gibt Politikansätze, die altern“, sagt er. Wenn eine Politik ein undemokratisches System stabilisieren helfe, sei es „Schön-Wetter-Politik“.
Nicht nur die Politik muss sich laut Gauck unangenehmen Realitäten stellen, auch die Bürger müssen das. Viel Kritik hatte im März ein Satz von ihm hervorgerufen: „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit.“ Gauck hatte damit ein Ende der Energielieferungen aus Russland gefordert. In Leipzig erneuert er diesen Aufruf noch einmal: Manche seiner Kritiker hätten „in ihrem Leben noch nie einen Tag gehungert oder einen Tag gefroren“, sagt er. „Ich habe aber viele Tage so etwas erlebt. Ich bin ein Kind, das im Krieg geboren ist und in der Nachkriegszeit erlebt hat, welche Entbehrungen Familien durchstehen mussten. Und ich habe auch erlebt, dass man daran nicht gleich stirbt.“ Er sage darum: „Wenn wir schon nicht kämpfen wollen für unschuldige Opfer, dann sollten wir doch wenigstens das tun, was uns vielleicht ein wenig schmerzt“, um den Ukrainern zu helfen.
Lob an Wirtschaftsminister Habeck
Der 82-Jährige will die existenziellen Ängste der Bevölkerung nicht kleinreden oder ignorieren. Als überzeugter Verfechter der Freiheit und ihrer Möglichkeiten, glaubt er, dass Ängste den Menschen einengen. „Wir müssen Ängste ernst nehmen, die Leute sind ja nicht gern ängstlich. Aber sie sind es oft – und in Deutschland sind sie es etwas öfter als in unseren unmittelbaren Nachbarländern.“ Aber mit Mut könnte man den Ängsten entgegentreten. „Die Existenz von Ängsten heißt noch nicht, dass diese Ängste dominieren müssen.“ Umso wichtiger seien Politiker, die ihre Handlungen erläutern und die Folgen aufzeigten. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der dies momentan in langen Videos in den sozialen Netzwerken tut, lobt er ausdrücklich.
„Angst wird uns nicht immer besiegen. Dieses Land wäre nicht das geworden, was es heute ist, wenn nur die Ängste obsiegt hätten“, sagt Gauck. „Wir hätten keine Montagsdemonstrationen gehabt, wir hätten keine Freiheit und Einheit gehabt, und wir hätten überhaupt kein Vorbild für viele, viele Länder werden können.“
„Leute, schaut das Leben an, wie es wirklich ist“
Er spricht den Politikern Mut zu, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen. Er kann sich zwar vorstellen, dass steigende Energiepreise zu einer neuen Protestbewegung führen können. Ähnlich hatte sich zuletzt der sächsische Landespolizeipräsident geäußert. Gauck spricht von einer „Ratio des Wohlstands“, die vor wirtschaftlichen Einbußen warnt und soziale Härten vermeiden will. Aber: „Ich glaube nicht, dass – wenn Menschen in so eine schwierige Phase kommen – sie gleich alle aufspringen würden und versuchen, den Staat zu ruinieren und die Regierung zu stürzen.“ Die demokratische Mehrheit stehe in Deutschland in der Mitte: „Es ist ein bisschen denunziatorisch, wenn man so tut, als wäre unsere deutsche Bevölkerung nur in Zeiten des Wohllebens demokratisch und würde außerstande sein, auch mal ein Opfer zu bringen. So klein mag ich von meinen Landsleuten nicht denken.“
Der Abend in der LVZ-Kuppel wird durch Gauck dagegen ein Appell für „die Ratio der Menschlichkeit“: „Leute, schaut das Leben an, wie es wirklich ist“, mahnt der Bundespräsident a.D. „Schaut das Sterben an, wie es wirklich ist. Dann stellen sich euch neue Fragen.“
Von Kai Kollenberg