“Hetzjagden“ in Chemnitz? Bundesregierung ohne eigene Beweise
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Demonstranten der rechten Szene sam 27. August 2018 in Chemnitz.
© Quelle: Jan Woitas / dpa
Chemnitz/Berlin. Es war ein Satz, der im Spätsommer 2018 eine gewaltige Debatte ausgelöst und letztlich auch zur Ablösung von Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen geführt hatte: „Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, dass es Zusammenrottungen gab, dass es Hass auf der Straße gab, und das hat mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wollte damit ihre Bestürzung über die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz zum Ausdruck bringen, wollte den Opfern beistehen. Ähnlich äußerte sich Regierungssprecher Steffen Seibert in der Bundespressekonferenz: Er sprach von „Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft“. Neben Maaßen hatte damals auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) widersprochen.
Bundesregierung weist Verantwortung von sich
Jetzt erklärt die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion: „Die zugrunde liegenden politischen Einordnungen der Bundesregierung fußen ... auf der Berichterstattung in den Medien.“ Dazu würden Videoaufnahmen zählen, „die zeigen, wie Personen aus einer Gruppe heraus Menschen mit den Sätzen ‚Haut ab!‘, ‚Was wollt ihr, ihr Kanacken?‘ und ‚Ihr seid nicht willkommen!‘ beschimpfen und in die Flucht jagen“. Gleichzeitig wird in dem sechsseitigen Schreiben auch - mit Bezug auf etwaige Verletzte sowie Strafanzeigen - eingeräumt: „Der Bundesregierung liegen keine über die Presseberichterstattung hinausgehenden Erkenntnisse vor.“ Zudem heißt es knapp auf eine entsprechende Nachfrage: „Der Bundesregierung ist die Debatte um den Begriff ‚Hetzjagd‘ bekannt.“
Frühere Aussagen werden teilweise korrigiert
Damit muss die Bundesregierung frühere Aussagen zumindest teilweise revidieren - unabhängig davon, dass nachweislich der Hitlergruß gezeigt und auch Menschen verfolgt worden waren. Genauso wenig wird der eigentliche Kern, der AfD-Trauermarsch und die Neonazi-Randale nach der tödlichen Messerattacke auf den Deutsch-Kubaner Daniel H. vom 26. August 2018, durch die neuen Aussagen der Bundesregierung berührt. Stattdessen wird die Verantwortung „den Medien“ zugeschoben. Maaßen hatte schon im September 2018 die Kanzlerin korrigiert: Es würden „keine belastbaren Informationen“ für ihre Behauptungen vorliegen.
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AfD-Landeschef Urban sieht sich bestätigt
Die AfD sieht sich nun bestätigt: „Merkels Regierung muss nun auf Druck der AfD öffentlich eingestehen, dass sie zu angeblichen Hetzjagden in Chemnitz keine eigenen Erkenntnisse hatte. An einen Rücktritt denkt sie jedoch nicht einmal“, teilt Sachsens Partei- und Fraktionsvorsitzender Jörg Urban aus, der die Kanzlerin nun „der Lüge überführt“ sieht. Zudem spricht die AfD weiterhin von einem „Mord durch einen Asylbewerber“ - obwohl der entsprechende Prozess noch läuft und die Ermittler laut der Anklage nicht zu dem Schluss gekommen sind, dass es sich um einen Mord gehandelt hat.
Bundestagsabgeordnete: AfD betreibt Wortklauberei
Mit dem Rückenwind aus der Großen Anfrage, die auch auf Initiative des Görlitzer AfD-Bundestagsfraktionsvize Tino Chrupalla entstand, warf die AfD der Bundesregierung am Freitag während einer Bundestagsdebatte zum Thema Chemnitz vor, „Fake News“ und „falsche Tatsachenbehauptungen“ zu verbreiten. Den Vorwurf konterten umgehend zwei Abgeordnete aus Chemnitz, die die Ausschreitungen miterlebt hatten. „Sie stellen diese Anfrage und beschäftigen sich mit Worten - manche sagen Wortklaubereien -, ob es Hetzjagden gegeben hat. Dabei geht es doch darum, was da tatsächlich passiert ist“, erwiderte Frank Heinrich (CDU). Unbeteiligte seien bedroht worden, Freunde von ihm seien in Chemnitz gewesen und hätten „Panik erlebt“, berichtete Heinrich und hielt der AfD vor, den „Mord“ immer noch instrumentalisieren zu wollen.
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Videozitat: Polizei kann Sicherheit nicht gewährleisten
Ähnlich reagierte Detlef Müller, SPD-Bundestagsabgeordneter ebenfalls aus Chemnitz, auf die Vorwürfe. Der AfD gehe es nicht um Aufklärung, sondern um Wortklaubereien, sagte Müller am Freitag in Berlin. „Es ist schlussendlich egal, ob es sich bei den Vorfällen am 26. und 27. August 2018 um Hetzjagden handelte oder um Jagdszenen. Richtig ist, dass hier Menschen verfolgt und angegriffen wurden, verbal und körperlich, aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer politischen Einstellungen, ihrer Herkunft oder auch nur aufgrund ihrer Tätigkeit.“ Seine Rede unterstrich Müller mit dem Video-Zitat eines Polizisten: „Wir können hier Ihre Sicherheit nicht gewährleisten.“
Von Andreas Debski
LVZ