Faktencheck: Hat Michael Kretschmer mit seinen Asylaussagen recht?
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Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat mit seinen strikten Asylpolitik-Forderungen bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Doch nicht mit jeder Aussage liegt Kretschmer richtig.
© Quelle: Jan Woitas/dpa
Dresden. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat in den vergangenen Tagen mit seinem Asyl-Kurs polarisiert: Für seine Forderungen, die Leistungen für Geflüchtete zu kürzen und dafür auch das Grundgesetz zu ändern, erntete er durchaus Applaus – und noch mehr Kritik. Was ist dran an Kretschmers Aussagen? Bekommen Asylbewerber zu viel Geld? Können sie tatsächlich nicht mehr untergebracht werden? Die LVZ hat sechs Kretschmer-Thesen einem Faktencheck unterzogen.
Aussage 1: „Schulen und Kindergärten sind überlastet.“
Fakt ist: Seit dem vergangenen Jahr kamen allein 4800 Kinder aus der Ukraine in Sachsen an, die im Kita-Alter sind und hier eine Einrichtung besuchen können. Hinzu kommen 2430 Asylsuchende bis 16 Jahre, von denen ebenfalls ein Teil im Kita-Alter ist. Konkretere Zahlen liegen weder der Landesdirektion noch in den angefragten Städten vor. Der Sächsische Städte- und Gemeindetag (SSG) bestätigt aber: „Im Bereich der Kitas kommt es nach unseren Informationen vereinzelt zu Engpässen.“
Für die Schulen gibt es genaue Daten: Laut sächsischem Kultusministerium stoßen die Schulen an ihre Kapazitätsgrenzen, insbesondere in Leipzig und Dresden. Wurden vor drei Jahren noch rund 38 100 Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund unterrichtet, sind es aktuell fast 54 000. Darunter befinden sich etwa 8000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine. Gleichzeitig unterrichten aktuell mehr als 500 Lehrkräfte in Sachsen, die ursprünglich aus der Ukraine stammen und vor Putins Krieg geflohen sind.
Angesichts des sowieso grassierenden Lehrermangels und verbreiteten Stundenausfalls ist es laut Ministerium immer schwieriger, insbesondere für die Vorbereitungsklassen „Deutsch als Zweitsprache“ (DAZ) ausreichend geeignetes Personal zu finden. Demnach können derzeit in Sachsen 380 geflüchtete Kinder und Jugendliche nicht in die Schule gehen, weil es an Räumen oder Lehrkräften mangelt.
Aussage 2: „Es gibt keine Wohnungen.“
Eine genaue Statistik, die Kretschmers zentrale These stützt, gibt es für ganz Sachsen nicht. Richtig ist aber, dass vor allem die großen Städte erhebliche Probleme haben, Asylsuchende unterzubringen. „Die Kapazitäten auf den Wohnungsmärkten der kreisfreien Städte sind nahezu erschöpft“, sagt der stellvertretende SSG-Geschäftsführer Ralf Lemkühler, „dies beweist der mittlerweile hohe Anteil von Notunterkünften, die eingerichtet werden mussten.“
So gilt in Dresden das Potenzial an belegbaren Wohnungen als erschöpft: Mehrere Aufrufe der Stadt an die Wohnungswirtschaft blieben „ohne nennenswerte Resonanz“, so der SSG. Aufgrund der Unterbringungspflicht hat Dresden aktuell 432 Notplätze in Hotels vertraglich gebunden, wovon 335 Plätze belegt sind. Darüber hinaus sollen kurzfristig sogenannte mobile Raumeinheiten (Zelte, Container) aufgestellt werden.
Auch Leipzigs Sozialbürgermeisterin Martina Münch (SPD) stellt fest: „Die Situation bei der Unterbringung der Geflüchteten in Leipzig ist sehr angespannt. Unsere Kapazitäten sind nahezu ausgeschöpft.“ Deshalb müssten permanent neue Unterbringungsmöglichkeiten gesucht beziehungsweise errichtet werden. Allein in diesem Jahr sind bereits 750 Plätze in drei Zeltstandorten geschaffen worden, bis Jahresende sollen weitere 2150 Plätze in Notunterkünften hinzukommen – weil auf dem Wohnungsmarkt so gut wie nichts zu machen ist. Hinzu kommt: Da kaum Wohnungen zu finden sind, müssen viele Asylsuchende in den Erstaufnahmen oder Gemeinschaftsunterkünften bleiben. Somit ergibt sich ein Stau.
Laut Sächsischem Landkreistag waren im Frühjahr ungefähr 15 000 Wohnungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber angemietet. Detailliertes Zahlenmaterial liegt jedoch nicht vor. Der Landkreistag verweist ansonsten darauf, dass es immer schwieriger würde, neue Unterbringungen zu finden. Containerdörfer seien bereits errichtet worden, auch Zeltstädte wären denkbar.
Ganz anders wird das Bild, wenn man die Wohnungswirtschaft um Informationen bittet: Der Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften geht davon aus, dass sachsenweit 3000 bis 5000 Wohnungen bezugsfertig sind. Mit einem Vorlauf von zwei bis drei Monaten könnten „sicherlich noch einmal genau so viele“ bereitgestellt werden, teilt eine Sprecherin mit. Die Räume müssten in diesem Zeitraum nur noch saniert werden.
Aussage 3: „Wir können kaum noch Sprachunterricht anbieten.“
Aktuell sind in Sprachkursen für Ausländer, die über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angeboten werden, in Sachsen 950 Plätze frei. Das ist etwa die Hälfte der Kapazität, die in den nächsten sechs Wochen in insgesamt 100 Kursen zur Verfügung stehen wird. Und noch eine Rückschau: Im vergangenen Jahr starteten in Sachsen 760 solcher Kurse, an denen mehr als 14 800 Personen teilnahmen. Insgesamt könnten bei einer steigenden Nachfrage auch mehr Kurse angeboten werden, erklärt das Bundesamt.
Allerdings ist unklar, was der Ministerpräsident mit seiner Aussage genau gemeint hat. Sollte er sich nicht auf die Sprach- und Integrationskurse bezogen haben, sondern auf den Unterricht für ausländische Schülerinnen und Schüler – dann dürfte ihn die aktuelle Statistik bestätigen. Die Zahl der Vorbereitungsklassen „Deutsch als Zweitsprache“ (DAZ) hat sich innerhalb von drei Jahren von 464 auf derzeit 966 mehr als verdoppelt. Derzeit lernen 46 800 Schülerinnen und Schüler in diesen DAZ-Klassen (2019/20: 31 300). Wie bereits erwähnt, gibt es für 380 geflüchtete Kinder und Jugendliche keinen Platz.
Doch auch das Bundesamt räumt im Fall seiner Integrations- und Sprachkurse ein: Mittlerweile komme es insbesondere in den ländlichen Regionen zu Engpässen, weil Räumlichkeiten und Lehrkräfte fehlten. Auch Sachsens Sozialministerin Petra Köpping (SPD) sagt: Zwar gebe es in den Metropolen ein größeres Angebot, doch auf dem Land würde es bereits schwierig, Kurse zu finden. Sie fordert deshalb mehr Pragmatismus: „Es geht um die Steuerung, um freie Kapazitäten und Interessenten zusammenzubringen. Solche Kurse sind im Übrigen auch digital oder am Wochenende durchführbar.“ Bei der jüngsten Integrationsministerkonferenz hat Köpping einen Antrag eingebracht, die Hürden für die Zulassung von Dozentinnen und Dozenten zu senken. So sollten beispielsweise auch Hochschulabsolventen verpflichtet werden können.
Aussage 4: „In den ersten drei Monaten dieses Jahres sind 100.000 Menschen in Deutschland angekommen. Ende des Jahres werden es zwischen 400.000 und 500.000 sein.“
In den ersten drei Monaten 2023 wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge insgesamt 87 777 Asylanträge gestellt – und zwar 80 978 Erst- und 6799 Folgeanträge. Das waren 80,3 Prozent mehr als im ersten Quartal 2022. Die von Kretschmer genannte Zahl ist also nur bei einer großzügigen Rundung richtig.
Wenn man davon ausgeht, dass auch im Gesamtjahr 2023 die Zahlen im Vergleich zu 2022 um mindestens denselben Prozentsatz steigen, dann würden bis Jahresende knapp 440 000 Asylanträge in Deutschland gestellt werden. Offizielle Prognosen gibt es nicht.
In den sächsischen Aufnahmeeinrichtungen kamen laut Landesdirektion in den ersten vier Monaten 2023 fast 5700 Asylsuchende an, von denen 3750 weiterhin im Freistaat leben. Im vergangenen Jahr sind es 18 500 Asylsuchende gewesen, geblieben sind 11 800. Darüber hinaus sind seit Kriegsbeginn 66 000 Geflüchtete aus der Ukraine in Sachsen aufgenommen worden.
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Aussage 5: „Wir müssen dringend über Leistungen an Asylbewerber reden und das in Europa vergleichen. Ganz offensichtlich ist das der zentrale Punkt, warum alle Asylbewerber quer durch Europa zu uns wollen.“
Es gibt wenige Studien, die untersuchen, warum Asylbewerber nach Deutschland kommen. Eine qualitative Befragung von Geflüchteten im Jahr 2016 kam zu dem Schluss, dass die Menschen einreisten, weil sie sich „ein Leben in Sicherheit und Frieden erhoffen und überzeugt sind, dass sich Deutschland in besonderem Maße (...) für die Unterstützung Schutzsuchender verantwortlich fühlt“. Auch die wirtschaftliche Stärke und hochwertige Bildung wurden hervorgehoben. Dem Gros der Befragten war die Inanspruchnahme von sozialen Leistungen „unangenehm“.
Auch eine Expertenbefragung im Jahr 2013 ergab, dass asylrechtliche Regelungen und Versorgungsleistungen keine „umfassende Außenwirkung“ haben. Dennoch gibt es wissenschaftliche Arbeiten, die genau diesen Zusammenhang aufzeigen: Für Dänemark zog eine Studie das Fazit, dass das Sozialsystem für die Wahl des Reiseziels wichtig sei.
Die Europäische Union schreibt ihren Mitgliedsstaaten nicht vor, wie die Sozialleistungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber zur Verfügung gestellt werden müssen. Möglich sind Geldzahlungen, Sachleistungen oder eine Kombination von beiden. Richtig ist aber, dass ein „angemessener Lebensstandard“ zu gewährleisten ist – und dieser variiert von Land zu Land, weil er an den jeweiligen Lebenshaltungskosten festgemacht wird. Deswegen ist es auch schwierig, die finanziellen Leistungen in den Mitgliedsstaaten nur aufgrund ihrer Höhe zu vergleichen. Laut dem European Council for Refugees and Exiles (ECRE) sind die reinen Geldzahlungen in Deutschland niedriger als beispielsweise in den Niederlanden.
Aussage 6: „Wenn wir eine funktionierende EU und offene Binnengrenzen haben wollen, müssen wir unsere Leistungen senken und an einen europäischen Wert anpassen.“
Asylsuchenden steht laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu, dass das Existenzminimum abgesichert wird – und daran muss sich die Politik halten. Schon 2012 haben die höchsten deutschen Richter gemahnt, dass Asylbewerberinnen und Asylbewerber nicht schlechter als Einheimische gestellt werden dürfen. Deshalb orientieren sich die Leistungen an den allgemein festgesetzten Regelbedarfen.
Allerdings gibt es Unterschiede, die sich danach richten, wie lange Asylsuchende bereits in Deutschland sind und wo sie untergebracht werden. Einer Gesetzesänderung von 2015 zufolge soll während des bis zu sechsmonatigen Aufenthaltes in einer Aufnahmeeinrichtung zwar der persönliche Bedarf (Essen, Kleidung, Gesundheitspflege) vorrangig aus Sachleistungen gedeckt werden, in der Praxis ist dies aber aufgrund des Aufwandes kaum umsetzbar. Bis auf sehr wenige Ausnahmen werden, auch in Sachsen, Geldleistungen gezahlt.
Laut Asylbewerberleistungsgesetz erhält beispielsweise eine vierköpfige Familie (Kinder 6 und 16 Jahre) in den ersten anderthalb Jahren in Deutschland insgesamt 1406 Euro pro Monat. Danach sind es 1670 Euro – so viel wie beim Bürgergeld. Ein alleinstehender erwachsener Asylsuchender bekommt nach dem Leistungsgesetz seit Januar 410 Euro pro Monat, nach einer Anerkennung 502 Euro.
Kretschmer hat auch vorgeschlagen, für eine neue Asylpolitik das Grundgesetz zu ändern. Dafür sind die Hürden allerdings sehr hoch: Die Verfassung kann nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundesrates und des Bundestages geändert werden. Mit anderen Worten: Es bräuchte für Kretschmers Initiative eine breite Unterstützung. Danach sieht es momentan nicht aus.
LVZ