Wo die Sowjetarmee Atomsprengköpfe lagerte
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SS-20-Sprengkopf Atomwaffe Rakete Nuklearsprengkopf Quelle Wikipedia
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Leipzig/Halle. Atomwaffen der sowjetischen Armee in der DDR: Über ihre streng geheime Lagerung hat der Militärhistoriker Sascha Gunold (29), Hauptmann der Bundeswehr, seine Dissertation geschrieben. Im Interview mit der LVZ berichtet er über seine Recherchen. Besondere Erkenntnisse gewann der Experte in der halleschen Garnisonskaserne Heide-Süd.
Wie viele Depots mit Atomwaffen existierten in Mitteldeutschland?
In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gab es in Altengrabow, Kapen bei Dessau, Wurzen, Halle, Altenhain, Torgau und Zeithain Standorte mit Kernwaffenlagern für Raketentruppen und Artillerie. Alle diese Lager wurden bis spätestens Juni 1991 leer geräumt. Zeithain, Altengrabow und Altenhain tatsächlich erst im Juni 1991, die anderen vermutlich ab 1989/90 – genaue Zahlen liegen für diese Standorte nicht vor. Auch an den Fliegerstandorten Großenhain und Altenburg gab es für Atombomben in Flugzeugen bestimmte Kernwaffen, die ebenfalls erst im Juni 1991 abgezogen wurden. Zwischen 1983 und 1988 gab es zudem im Raum Königsbrück und Bischofswerda temporäre Lager für die Nuklearsprengköpfe der Mittelstreckenraketen SS-12. Diese Sprengköpfe wurden im Februar 1988 im Rahmen des Mittelstreckenraketen-Abrüstungsvertrags abgezogen.
Wer wusste von den Lagern?
Die DDR-Regierung oder die Nationale Volksarmee wussten offiziell nichts von Atomwaffenlagern. Grundsätzlich waren sie eines der am besten gehüteten Geheimnisse der sowjetischen Truppen in der DDR. Inwieweit das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) seine Informationen weitergab beziehungsweise an wen, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich dürfte diese Information aus Sicherheitsgründen nur einem kleineren Geheimdienstkreis bekannt gewesen sein. Hinsichtlich der Absicherung der Atomwaffentransporte gab es nachweislich eine Zusammenarbeit zwischen dem MfS und dem russischen Geheimdienst KGB. Westliche Nachrichtendienste wie der deutsche BND, die US-amerikanische Defense Intelligence Agency oder die Militärverbindungsmissionen der westlichen Alliierten gelangten wohl erst zu Beginn der 1980er-Jahre an Informationen über die Lager, wobei die endgültige Beweisführung schwierig war.
Ab wann befanden sich Nuklear-Sprengköpfe an den erwähnten Standorten?
Zu Beginn der 1960er-Jahre befand das sowjetische Militär, dass die Raketentruppen der Landstreitkräfte – insbesondere jene an „vorderster Front“ in der DDR – schnellstmöglich mit Gefechtsköpfen und zusätzlichen Trägern versorgt werden müssten. So wollte man sicherstellen, dass die taktischen und operativ-taktischen Raketeneinheiten effektiv zum Einsatz gebracht werden konnten. Daraus resultierte, dass die Versorgungseinheiten in der Nähe der schießenden Einheiten stationiert werden mussten. Dies geschah in der DDR – nach neuesten amtlichen Quellen – ab 1964. Grundsätzlich gab es bereits seit Ende der 1950er-Jahre sowjetische Kernwaffen in der DDR.
Um welche Typen handelte es sich?
Zu Beginn der 1950er-Jahre wurden taktische Raketenkomplexe vom Typ Luna eingeführt. Jede Division der sowjetischen Landstreitkräfte erhielt eine Luna-Abteilung mit vier Startrampen. Die Raketen hatten jedoch keine besonders hohe Zielgenauigkeit, sodass konventionelle Gefechtsköpfe zwar vorhanden waren, aber der Einsatzwert von Luna vor allem durch atomare Gefechtsköpfe gesteigert werden konnte. In den achtziger Jahren wurden Luna und modernisierte Luna-M durch die Totschka-Systeme – im Nato-Slang SS-21 genannt – abgelöst. Diese waren um einiges zielgenauer, sodass nun auch konventionellen Gefechtsköpfen mehr Bedeutung beigemessen werden konnte. Atomare Gefechtsköpfe für Totschka gab es trotzdem – und diese wurden weiterhin gelagert.
Sollten die Waffen von Standorten in Mitteldeutschland aus eingesetzt werden?
Nein, dieses Szenario ist eher unwahrscheinlich. Im Kriegsfall hätten die Raketeneinheiten zunächst bestimmte Räume bezogen, wo die Übergabe der Gefechtsköpfe stattgefunden hätte. Gefechtskopf und Träger wären erst dort vereinigt worden. Hiernach wären wahrscheinlich vorbereitete Feuerstellungen außerhalb von Städten bezogen worden, von wo aus die Raketen hätten abgefeuert werden können. Diesen Handlungen wären aber umfangreiche Freigabeprozesse, übermittelt durch den sowjetischen Generalstab, vorangestellt gewesen. Ein spontaner Abschuss einer mit einem Atomgefechtskopf bestückten Rakete wäre nicht möglich gewesen.
Befanden sich hier auch die dafür notwendigen Trägerraketen?
Die schießenden Einheiten, also die Raketenabteilungen mit ihren Startrampen, besaßen selbst Träger für den ersten Einsatz. Für weitere Einsätze wurden zusätzliche Träger in den Beweglichen Raketentechnischen Basen gelagert, jedoch räumlich getrennt von den Gefechtsköpfen. Beispielsweise in Halle wurden Träger für die Systeme Luna und Totschka gelagert.
Welche Reichweiten gab es und welche Zielräume?
Bis etwa Mitte der 1980er-Jahre waren die Raketenabteilungen den Divisionskommandeuren unterstellt, die sie für taktische Aufgaben nutzen konnten – wie etwa das Zerschlagen von gegnerischen Kräften, Gefechtsständen et cetera. Luna-M hatte lediglich eine maximale Reichweite von 70 Kilometern. Mit der Einführung von Totschka in den 1980er-Jahren erfolgte eine Umgruppierung von Raketenabteilungen zu taktischen Raketenbrigaden. Diese Brigaden unterstanden fortan einem der fünf Armeebefehlshabern der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Durch die hohe Präzision von Totschka konnten punktuelle Ziele effektiver bekämpft werden. Über den Einsatz von Kernwaffen hätte trotzdem unverändert der sowjetische Generalstab das letzte beziehungsweise erste Wort gehabt. Totschka-Raketen konnten Ziele in Entfernungen von bis zu 120 Kilometern bekämpfen. Es waren genau wie Luna und Luna-M taktische Kurzstreckenraketen.
Was hatten Nuklear-Sprengköpfe für eine Sprengkraft?
Welche Sprengköpfe an den einzelnen Standorten lagerten, lässt sich nicht eindeutig sagen. Die Gefechtsköpfe taktischer Bestimmungen hatten meist eine TNT-Äquivalenz im unteren Kilotonnen-Bereich – Luna-M etwa bis 20 Kilotonnen, Totschka auch darüber hinaus. Zum Vergleich: Die Hiroshima-Atombombe hatte eine Sprengkraft von etwa 13 Kilotonnen.
Bestanden durch die Lagerung jemals akute Sicherheitsgefahren für die Einwohner der Städte oder für die Soldaten der Garnisonen?
Die Mitte der 1960er-Jahre errichteten Sprengkopflagerbunker boten einfachen Schutz gegen Einwirkungen von außen, hätten aber bei einer direkten Waffeneinwirkung durch eine Bombe oder Rakete vermutlich nicht standgehalten. Strahlung dürfte vermutlich nur innerhalb der Bunkeranlagen oder maximal in unmittelbarer Nähe feststellbar gewesen sein. Eine akute Gefahr bestand somit für die Anwohner – bei normaler Lagerung – nicht. Jedoch zeigt die Raketenkatastrophe von Dannenwalde im heutigen Brandenburg aus dem Jahr 1977, welche Risiken entstehen können (d. Red.: vermutlich durch einen Blitzschlag explodierte ein Munitionslager der Sowjetarmee, durch Hunderte entzündete Katjuscha-Raketen wurden vermutlich 70 bis 300 Sowjetsoldaten getötet). Nicht auszuschließen ist, dass solch ein Atomwaffenlager im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Armeen des Warschauer Vertrags und der Nato zu einem militärischen Ziel geworden worden wäre. Hierzu liegen aber keine konkreten Hinweise vor.
Die Sowjetarmee lagerte auch auf dem halleschen Garnisonsgelände in Heide-Süd Atomsprengköpfe. Welche Erkenntnisse haben Sie dazu?
Mehrere Quellen bestätigen die Existenz einer sogenannten Beweglichen Raketentechnischen Basis in der Kaserne Heide-Süd in Halle. Hinter dieser sperrigen Bezeichnung verbergen sich Spezialeinheiten zur Lagerung, Wartung und zum Transport von Gefechtsköpfen und Trägern der Raketentruppe und Artillerie – darunter auch Kernsprengköpfe. Neue Quellen aus dem sowjetischen Generalstab belegen, dass in Halle ab mindestens 1964 eine solche Einheit stationiert war. Luftbilder aus dieser Zeit, auf denen die dafür notwendigen baulichen Veränderungen im entsprechenden Objekt zu erkennen sind, bestätigen diese Information. Die Einheit mit der Feldpostnummer 38673 versorgte die selbstständigen Raketenabteilungen der Divisionen der 8. Gardearmee im thüringischen Raum.
Was wusste die DDR-Führung?
In den 1980er-Jahren beobachtete und registrierte das MfS des Öfteren Sondertransporte der Deutschen Reichsbahn, die in das Anschlussgleis in Halle rangiert wurden. Strahlenmessungen und die besonderen Anforderungen der sowjetischen „Freunde“ ließen beim MfS nur den folgerichtigen Schluss zu: In diesen Sondertransporten wurden Atomsprengköpfe transportiert. Offiziell gab dies die sowjetische Seite jedoch nie zu. Nach der Wiedervereinigung inspizierten Nachrichtendienstmitarbeiter aus Deutschland und den USA das Atomwaffenlager in Halle und bestätigten ihren Verdacht. Etwa seit den 1980er-Jahren vermuteten westliche Dienste, dass es in Halle Atomwaffen gab. Zur endgültigen Bestätigung kam es dann im Herbst 1991. Heutzutage findet man in russischsprachigen Internetforen Hinweise von ehemaligen Angehörigen der Beweglichen Raketentechnischen Basis in Halle, welche denselben Schluss zulassen.
Wann und wohin wurden Nuklear-Sprengköpfe aus Halle abtransportiert?
Anders als bei anderen Kernwaffenlagern in der ehemaligen DDR liegen zu Halle keine konkreten Zeitangaben vor. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Kernwaffen aus Halle mit Eisenbahn-Sondertransporten 1990, eventuell sogar bereits ab Ende 1989 abgezogen wurden. Über die weitere Lagerung der Kernwaffen aus Halle ist nichts bekannt. Grundsätzlich wurden zu Beginn der 1990er-Jahre alle taktischen Kernwaffen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und Stationierungsgebieten der Sowjetarmee in Russland zusammengezogen.
Existieren noch bauliche Hinterlassenschaften auf dem ehemaligen Militärgelände in Halle?
Gebäude der ehemaligen Heidekaserne werden heute durch die Martin-Luther-Universität nachgenutzt. Das betrifft insbesondere die früheren Unterkunftsgebäude, die noch aus den 1930er-Jahren stammen. Der überwiegende Teil ist jedoch abgetragen worden und mittlerweile durch Eigenheime überbaut. Das trifft grundsätzlich auch für das Areal der Beweglichen Raketentechnischen Basis in der Nähe des Springkrautwegs zu. Die Lagerbunker existieren noch, wobei der eine komplett zugeschüttet ist und der andere als Fledermausquartier dient. Seine Räume sind grundsätzlich begehbar, jedoch zum Schutze der Tiere verschlossen. Spuren seines einstigen Verwendungszweckes dürften im Bunker kaum noch vorhanden sein. Dies kann jedoch nur eine Überprüfung vor Ort klären. Eine Gefahr durch Reststrahlung gab es bereits seit dem Abtransport der letzten Atomwaffen aus Halle nicht mehr.
Von Bernd Lähne
LVZ