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16 Opfer

20 Jahre nach Schulmassaker: Erfurter Gymnasium will zum Jahrestag Opfer aus Anonymität holen

Eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer am Gutenberg-Gmnasium 20 Jahre nach dem Amoklauf. Am 26. April 2002 erschießt ein ehemaliger Schüler am Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und tötet sich anschließend selbst. Am Jahrestag versammeln sich an den Stufen der sanierten Schule Schülerinnen und Schüler, Angehörige der Opfer und Erfurter, die sie kannten sowie ehemaligen Lehrkräfte und Schüler zum Gedenken.

Eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer am Gutenberg-Gmnasium 20 Jahre nach dem Amoklauf. Am 26. April 2002 erschießt ein ehemaliger Schüler am Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und tötet sich anschließend selbst. Am Jahrestag versammeln sich an den Stufen der sanierten Schule Schülerinnen und Schüler, Angehörige der Opfer und Erfurter, die sie kannten sowie ehemaligen Lehrkräfte und Schüler zum Gedenken.

Erfurt. Seit Monaten schon erreichen Schulleiterin Christiane Alt Anfragen mit Blick auf den Jahrestag des Anschlags am Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Dass jährlich die Medien klingeln, „das ist seit 20 Jahren extrem lästig, um das mal so zu sagen“, sagt die Frau, die bereits damals die Schule am Rande Erfurts leitete. Dieses Jahr sei es besonders stressig. Die gleichen Fragen, immer wieder.

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„Es ist, denk ich mal, irrelevant, immer wieder die Abläufe des Tages aufzurufen. Dafür gibt es gnaden- und endloses Archivmaterial. Darum geht es hier nicht. Und schon gar nicht nach 20 Jahren. Also wenn ich gefragt werde: „Können Sie mal den Tag erzählen von damals?“ Nein, den will ich überhaupt nicht mehr erzählen“, sagt Alt.

Das Massaker 2002

Am 26. April 2002 tötete ein Ex-Schüler am Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen. Der 19-Jährige erschoss zwölf Lehrkräfte, eine Schülerin und einen Schüler, eine Sekretärin, einen Polizisten und letztlich sich selbst. Es war das erste Schulmassaker eines solchen Ausmaßes an einer deutschen Schule. Zuvor waren Massaker mit Schusswaffen ein Phänomen, dass man in Deutschland nur aus den USA kannte, etwa von der Columbine High School in Littleton (1999).

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Dass der Tag für alle 700 Schülerinnen und Schüler, das Kollegium, die Notfallmediziner und Polizisten eine traumatisch war, steht außer Frage. Heute, 20 Jahre danach, müsse man sich vielmehr fragen, was daraus für das Bildungssystem resultierte. „Denn das Geschehen von damals war nicht einmalig in Deutschland. Es hat Wiederholungen gegeben und wir können auch nicht ausschließen, dass sich das erneut wiederholt.“ Ereignisse wie von Winnenden oder Ansbach 2009 oder zuletzt im Januar an der Uni in Heidelberg kommen einem in den Sinn.

Bedeutung für das Schulsystem

Seit Erfurt hat sich viel bewegt. Thüringen wie auch andere Bundesländer haben auf der Basis des Geschehens in Erfurt die Sicherheit an den eigenen Schulen überprüft und Warnsysteme ein- und ausgebaut. Abgeschlossen ist aus Sicht Alts aber auch dieses Kapitel nicht. „Wir alle kennen ja die desolate Finanzsituation im Bildungssektor oder eben auch bei den Schulträgern.“

Neben den technischen Voraussetzungen wurde auch das Thüringer Schulgesetz in direktem Bezug auf den Vorfall am Gutenberg-Gymnasium überarbeitet. Heute sieht es vor, dass Gymnasiasten am Ende der zehnten Klasse den Realschulabschluss erwerben können. Der Täter wurde in der Oberstufe der Schule verwiesen und stand ohne Abschluss da. Da er zu dem Zeitpunkt schon volljährig war, wurden die Eltern über den Verweis ihres Sohnes nicht von der Schule informiert. Auch das ist heute anders. Eltern volljähriger Schüler werden über besondere Ereignisse durch die Schule in Kenntnis gesetzt.

Der wichtigere Schritt ist für Alt die Prävention. Seit knapp zwei Jahrzehnten setzt sie sich nach eigenen Angaben dafür ein, dass es in Schulen Sozialarbeiter und einen schulpsychologischen Dienst gibt.

Schulbetrieb wird erst drei Jahre später wieder aufgenommen

An Schultagen gehen etwa 650 Schülerinnen und Schüler und 60 Lehrkräfte ein und aus am Gutenberg-Gymnasium. Nach dem 26. April 2002 wurden umfangreiche Rekonstruktions- und Umbauarbeiten an dem Gebäude vorgenommen. Der Schulbetrieb wurde erst drei Jahre später wieder in dem Haus aufgenommen.

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„Wir wurden dann ausquartiert und dann haben sie die Schule komplett verändert“, erinnert sich die ehemalige Schülerin Nathalie, heute 32. „Dann waren viele sehr beliebte Lehrer und Lehrerinnen weg. Und auch deine vertraute Umgebung - der Schulhof, und der Baum, den du so mochtest - das war plötzlich alles weg und anders.“ Der Schulalltag sei noch lange Zeit nach der Tat „echt mitgenommen“ gewesen. Viele hätten versucht, die Schule zu verlassen. Auch Nathalie wollte wechseln, doch es klappte nicht. Noch Jahre später schließt sie eine Wohnung in der Nähe der Schule aus. Zu schmerzhaft die Erinnerung. Menschenmassen behagen ihr nicht, Filme mit Schusswaffen setzen ihr zu. Doch mit den Jahren verblassen die Erinnerungen.

Was seit 2002 als Konstante geblieben ist, sind die jährlichen Gedenkveranstaltungen. 2022 ist der Tag etwas anders als in den Jahren zuvor gestaltet, sagt Schulleiterin Alt. Mit Teilen ihrer Biografie sollen die Opfer in den Ansprachen detaillierter porträtiert werden. Nach 20 Jahren gibt es außer 13 Lehrkräften keine Personen mehr an der Schule, die Zeitzeugen sind.

Es gehe beim Gedenken im Kern darum, den Opfern nahe zu sein, sagt Alt. Sie denen nahe zu bringen, die sie nicht kannten, um das Ausmaß des Verlustes und die Achtung vor dem Leben zu vermitteln. „Eines Tages gibt es auch keine Zeitzeugen mehr in Form von Lehrkräften. Auch dann wird das Gedenken zu dieser Schule gehören.“

Amokläufe mit Schusswaffen und Messern in Deutschland

Das Massaker des ehemaligen Schülers am 26. April 2002 war das erste eines großen Ausmaßes an einer deutschen Schule. Eine Auswahl an Amokläufen seitdem: Winnenden, März 2009: Ein 17-Jähriger erschießt an einer Realschule sowie auf seiner Flucht 15 Menschen und sich selbst. Ansbach, September 2009: Mit Beil, Messern und Molotow-Cocktails bewaffnet verletzt ein 18 Jahre alter Gymnasiast neun Mitschüler und einen Lehrer. Ansbach, Juli 2015: Ein 47 Jahre alter Sportschütze erschießt aus seinem Auto heraus zwei Menschen und verletzt weitere. München, Mai 2016: Am S-Bahnhof Grafing sticht ein 27-jähriger Mann aus Hessen wild um sich, tötet einen Menschen und verletzt drei. Reutlingen, Juli 2016: Ein 21-Jähriger tötet seine Geliebte und Kollegin mit einem Dönermesser. Außerdem verletzt der Syrer bei einem Amoklauf in der Innenstadt zwei Menschen. Düsseldorf, März 2017: Ein 36-Jähriger aus dem Kosovo wütet im Bahnhof brutal mit einer Axt. Zehn Menschen erleiden Verletzungen. Heidelberg, Februar 2017: Ein 35-Jähriger Deutscher flüchtet mit einem Messer bewaffnet zu Fuß, nachdem er zuvor einen Mietwagen in eine Menschengruppe gesteuert und dabei einen Mann getötet hat. Lübeck, Juli 2018: Ein 34-Jähriger legt in einem Linienbus Feuer und verletzt zwölf Fahrgäste mit einem Messer zum Teil schwer. Würzburg, Juni 2021: Ein 24-jähriger Somalier sticht ohne Vorwarnung auf Menschen ein. Drei Frauen sterben, sieben Menschen werden verletzt. Das Motiv für den Angriff ist weiterhin unklar. Heidelberg, Januar 2022: An der Universität in Heidelberg tötet ein Mann eine junge Frau und verletzt mehrere Menschen mit seiner Waffe.

RND/dpa

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