Astronaut Alexander Gerst: „Das All darf nicht zum Wilden Westen werden“
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Astronaut Alexander Gerst: Im Weltraum vermisst er das Gezwitscher der Vögel.
© Quelle: Uli Deck/Dpa
In die Ferne hat es Alexander Gerst immer schon gezogen: In der Antarktis und in Neuseeland erforschte der Geophysiker Vulkane. Erstmals brach er 2014 zur International Space Station (ISS) auf.
Spätestens als er 2018 zum zweiten Mal zur ISS flog, dieses Mal als Kommandant, wurde aus ihm der „Astro Alex“. Seine Bekanntheit nutzt er, um sich für den Umweltschutz zu engagieren. Aus dem All wandte er sich in einer „Nachricht an meine Enkelkinder“ und entschuldigte sich für die Zerstörungen, die seine Generation anrichtet.
Nun ist Gerst in dem Dokumentarfilm „Wer wir waren“ (Kinostart: 8. Juli) zu sehen. Wissenschaftler machen sich Gedanken darüber, wie dieser Planet doch noch zu retten ist und wie eine lebenswerte Zukunft aussehen könnte.
Herr Gerst, wäre es nicht eine wunderbare Option, vor der Corona-Pandemie ins All zu entschwinden?
Darüber habe ich erst kürzlich mit meinem Freund Thomas Pesquet gescherzt, der gerade auf der ISS ist und damit geschützt vor jedem neuen Virus. Er kann dort arbeiten wie sonst auch. Aber ernsthaft betrachtet: Ich bin nicht der Typ, der Problemen entflieht. Ich würde sie lieber lösen.
War es für Sie in den vergangenen Monaten schwer auszuhalten, all die Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker auf den Straßen zu sehen?
Ich habe jedenfalls viel den Kopf geschüttelt. Eine Pandemie ließe sich viel leichter unter Kontrolle bringen, wenn alle Menschen an einem Strang ziehen. Das gilt nicht nur für Corona, sondern auch für Probleme wie die Klimakrise.
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Ist Ihr Glaube an die Intelligenz der Menschheit beim Kreisen um die Erde gesunken?
Tatsächlich haben meine Kollegen und ich manchmal aus der Aussichtskuppel der ISS geschaut und uns vorgestellt, was jetzt wohl Außerirdische denken würden. Sie würden Wesen beobachten, die sich gegenseitig bekriegen und die Natur zerstören. Da stellt sich schon die Frage, ob diese Aliens uns als intelligentes Leben einordnen würden. Vielleicht würden sie lieber erst mal einen Planeten weiterfliegen.
Was wiegt beim Blick auf die Erde schwerer: deren Schönheit oder die Spuren der Zerstörung?
Die Schönheit sticht sofort raus. Unser Gehirn ist darauf gepolt, ästhetische Dinge zu erkennen, bevor wir sie mit dem Verstand einordnen. Das ist auch noch bei der hundertsten Erdumkreisung so. Aber irgendwann realisiert man, dass der Planet da unten keinesfalls unendlich groß, sondern sehr klein ist. Diese Erkenntnis gehört zu den wichtigsten, die wir Astronauten zurückbringen können: Im Angesicht der Unendlichkeit spürt und fühlt man die Verletzlichkeit des Planeten.
Darum geht es auch in dem Dokumentarfilm „Wer wir waren“: Was hat Sie bei Ihrem übervollen Terminkalender dazu bewogen, bei dem Film mitzumachen?
Die Idee, die dahinter steht: Der Titel bezieht sich auf die Zukunftsrede des Publizisten Roger Willemsen, die er kurz vor seinem Tod gehalten hat. Darin sagt er sinngemäß, dass es zwar sein könnte, dass wir genügend Informationen haben, aber nicht die notwendigen Erkenntnisse daraus ableiten. Es bringe nichts, nur Wissen ohne Bewusstsein zu sammeln. Man muss aus verschiedenen Perspektiven auf die Menschheit schauen, und das tun in dem Film zum Beispiel eine Meeresbiologin, ein Ökonom, eine Philosophin, ein buddhistischer Mönch und ich. Die Zuschauer und Zuschauerinnen sind dann frei, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.
Die US-Ozeanologin Sylvia Earle sagt im Film „Wer wir waren“, es sei verrückt, dass alle auf den Mond wollten. Der sei schon viel besser erforscht als die Tiefen der Meere. Hat sie recht?
Wir Menschen können glücklicherweise an allen Ecken und Enden gleichzeitig forschen. Ich bin erst im vorigen Jahr mit Antje Boetius vom Alfred-Wegener-Institut vor den Azoren in die Tiefsee abgetaucht. Wir Menschen haben sogar die Verantwortung, viele Probleme gleichzeitig zu lösen. Aber mit dem Weltraum ist es einfacher als mit der Tiefsee: Sie können heute Nacht ein Foto vom Mond machen, und dann haben Sie dessen Oberfläche zu 50 Prozent erfasst. Aber deshalb wissen Sie über den Mond noch nicht viel. Und weil ein paar Roboter auf dem Mars spazieren fahren, kennen wir den Planeten noch nicht, und warum der einst lebensfreundliche Planet nun wüst und leer ist.
Sie waren zweimal, 2014 und 2018, im Weltraum: Hatte sich die Erde verändert in der Zwischenzeit?
Man sah deutlich, dass die Gletscher kleiner geworden sind. Genauso war es mit dem Aralsee. Rodungsflächen im Amazonas dagegen waren gewachsen, auch Wüsten. Aber um das zu erkennen, muss man nicht ins All fliegen. Beste wissenschaftliche Daten liefern uns die Satelliten des europäischen Erdbeobachtungssystems Copernicus. Was wir Astronautinnen und Astronauten aber tun können, ist das Verständnis für unsere Situation zu erweitern.
Wäre die Welt eine andere, wenn man Herrn Bolsonaro oder Herrn Putin ein paar Runden um die Erde kreisen lassen würde?
Vermutlich bliebe das nicht ohne Folgen. Aber ich denke, es gibt auch beratungsresistente Charaktere. Tatsächlich würde ich mich aber freuen, wenn jeder Mensch die Möglichkeit hätte, die Erde von außen zu sehen. Ich glaube sogar, dass das irgendwann so sein wird.
Alle wollen ihre eigenen Raumstationen bauen: Setzt im Weltraum gerade eine Renationalisierung ein?
Ein bisschen Wettbewerb zwischen den Nationen ist ja nicht schlecht. Auch die Chinesen haben internationale Partner zu ihrer geplanten Station eingeladen. Jede Anstrengung ist erst mal zu begrüßen, wenn sie darauf abzielt, den Weltraum besser zu verstehen und dadurch auch die Situation auf unserem kleinen blauen Planeten zu verbessern.
Aber sind die Absichten aller Akteure im All wirklich so friedlich?
Schlimm wäre es, wenn ein Militarisierungswettlauf beginnen würde. Momentan sieht es für mich aber nicht danach aus. Auch wir Europäer müssen unsere Interessen vertreten. Es geht immer auch um neue Technologien – und es gibt nun mal Dinge, die lassen sich nur im Erdorbit rausfinden. Dafür haben sich 16 Nationen auf der ISS zusammengefunden. Die Kooperation führt dazu, dass man auch auf Erden nicht gleich alle Bande abbricht, wenn es zwischen Partnern mal knirscht.
Wollen sich die Russen nicht gerade abkoppeln von der ISS und im Alleingang weitermachen?
Wenn ich eine Aussage wagen soll: Ich glaube, dass unsere russischen Partner noch mindestens zehn Jahre bei der ISS dabei sind. Letztlich sind auch sie auf Kooperation angewiesen.
Was zieht die Menschen überhaupt ins All?
Jedenfalls wollen wir keine zweite Erde kolonialisieren, nachdem wir die erste wie Heuschrecken abgewirtschaftet haben. Wir wollen die Erde beschützen. Deshalb begrüße ich es, wenn sich weitere Länder, wie zum Beispiel die Vereinigten Arabischen Emirate oder Indien, an der astronautischen Raumfahrt beteiligen. Wenn ich in einem Wort sagen soll, warum wir zu anderen Planeten fliegen: Neugier.
Sieht das Elon Musk genauso, wenn er den Mars besiedeln will?
Auch Herr Musk mit seiner privaten Weltraumfirma SpaceX will nicht weiterziehen. Er sagt, dass die Menschheit eine interplanetare Spezies werden muss, um zu überleben – übrigens ein Zitat von Stephen Hawking. Da steckt das Kalkül dahinter, dass unser Planet zu klein ist, als dass wir uns allein auf ihn verlassen könnten. Es ist nie schlecht, einen Plan B zu haben. Denn selbst wenn wir die Klimakatastrophe abwenden: Was tun wir, wenn ein Asteroid auf die Erde zurast? Bruce Willis für Rettungsaktionen mit Atomsprengkopf hilft uns nur im Kino. Gerade forschen wir bei der Esa, wie sich ein Asteroid durch eine Sonde umlenken lassen könnte. Aber noch mal – Ziel der Europäischen Weltraumagentur ist, durch die Erforschung des Weltraumes das Leben auf der Erde zu verbessern.
Droht das All zu einem Spielzimmer für Multimilliardäre zu werden?
Wir sollten dankbar sein, dass es solche Persönlichkeiten gibt. Sie haben die Raumfahrt meilenweit nach vorn gebracht. Ich würde es umgekehrt sehen: Es ist schade, dass wir es ohne Visionäre nicht schaffen. Der Weltraum sollte ein Ort werden, wo viele Akteure agieren – nicht nur Weltraumagenturen wie Esa oder Nasa. Das kann durchaus kommerziell sein. Bloß darf das All nicht zum Wilden Westen werden.
Wo liegen die Gefahren?
Wir müssen zum Beispiel schnellstens die Vermüllung stoppen. Der Schrott kann uns den Zugang zum Weltraum versperren.
Werden ISS-Astronauten irgendwann an Werbebannern vorbeifliegen?
Ich kann nichts Schlimmes daran finden, wenn eine Firma ihre eigene Station ins All bringt und Werbung damit macht. Wir versuchen gerade, die ISS für kommerzielle Forschung zu öffnen.
Gerade hat jemand 28 Millionen Dollar bezahlt, um mit Amazon-Chef Jeff Bezos ein paar Minuten ins All zu fliegen: Ist der Weltraum eine Destination für Luxusurlauber?
Ich würde das anders sehen: Das überteuerte Ticket zeigt, wie viel es Menschen wert ist, loszufliegen. Genau das sollte auf Dauer eben nicht nur Superreichen vorbehalten bleiben. Die Luftfahrt hat ja genauso exklusiv angefangen: Heute können es sich ziemliche viele Menschen leisten, den Atlantik zu überqueren.
Das Interesse am Weltraum ist gewaltig: 22.000 Europäer haben sich bei der Esa für das neue Astronautenprogramm beworben. Nur ein knappes Viertel davon sind Frauen. Hätten es noch ein paar mehr sein können?
Wir hätten uns natürlich noch mehr gewünscht. Aber es sind immerhin schon mal 10 Prozent mehr als bei der Auswahl 2008, das ist eine sehr gute Entwicklung. Auf der ISS habe ich erlebt, dass gemischte Crews am effektivsten arbeiten. Überhaupt gilt: Je mehr unterschiedliche Erfahrung an Bord ist, desto besser.
Was sollte ein Astronaut oder eine Astronautin können?
Jeder Mensch bringt besondere Qualifikationen mit, da geht es letztlich nicht um Frau oder Mann. Es haben sich auch mehr als 200 Menschen mit körperlicher Behinderung beworben. Das ist großartig: Ich habe vor vielen Jahren fürs Rote Kreuz gearbeitet und seitdem vor Menschen mit Behinderungen einen riesigen Respekt. Die Fähigkeit, mit schwierigen Situationen umzugehen, kann auch im Weltraum helfen. Um es mal salopp zu sagen: Da oben ist es einigermaßen egal, ob man Füße hat oder nicht.
Haben diese Bewerber eine reelle Chance, genommen zu werden?
Selbstverständlich, das ist unsere volle Intention. Am Ende wird es von einer Machbarkeitsstudie abhängen, ob es klappt.
Wieso melden sich Tausende Menschen für eine Expedition zum Mars, wenn ihnen gesagt wird, dass es keine Rückfahrkarte gibt?
Sie spielen auf das Projekt Mars One an. Dahinter steckte eine Medienfirma, eine PR-Aktion. Keine seriöse Weltraumagentur hätte so einen Vorschlag gemacht. Das Wichtigste ist es ja gerade, von einem Abenteuer zurückzukehren und hinterher von seinen Erfahrungen zu erzählen. Die Faszination aber kann ich verstehen. Auch ein junger Astronaut würde viel opfern, um losfliegen zu dürfen. Was die meisten Bewerber für den Mars aber kaum realisiert haben dürften, ist, dass nicht der Weltraum der besondere Ort ist – sondern die Erde.
Aus Ihrem Mund überrascht der Satz.
Ich kann Ihnen garantieren: Jeder meiner Kollegen ist nach einem halben Jahr im All begierig darauf, wieder zurückzukommen. Im Weltraum vermissen Sie das, was Ihnen hier selbstverständlich erscheint – das Tröpfeln des Regens, der Geruch von gemähtem Gras oder Vogelgezwitscher. Nach ein paar Monaten in einem Container inmitten einer rotgrauen Marswüste würden One-Way-Astronautinnen und -Astronauten ihre lebenslange Entscheidung bitter bereuen. Allerdings muss ich hinzufügen: Wen das Weltraumvirus einmal erwischt hat, der will auch wieder dahin zurück.
Das heißt, Sie wären bei den geplanten Erkundungsflügen zum Mond dabei?
Drei Europäerinnen und Europäer werden noch in diesem Jahrzehnt zur Station Lunar Gateway fliegen, die den Mond umkreisen soll. Die Station ist ein Zwischenschritt zur Landung auf dem Mond. Klar wäre ich da gern dabei. Sonst wäre ich ja nicht Astronaut.
Was haben Sie persönlich aus der Zeit im All gelernt?
Mich bringt seitdem nicht mehr so viel aus der Ruhe. Allerdings habe ich auch vorher nicht zu Panik geneigt, sonst wäre ich kaum Vulkanologe geworden. Ein Problem betrachte ich möglichst mit dem Weitwinkelobjektiv. Auch wenn es direkt vor mir aufragt, sage ich mir: So groß kann dieses Problem gar nicht sein, als dass es keinen Weg drumherum gibt.