Die Grenzen des Boulevard: Über das Leben und Sterben von Kasia Lenhardt
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„Diese Welt ist so wahnsinnig verwirrend“: Model Kasia Lenhardt bei einem Fototermin im Berliner Kaufhaus KaDeWe.
© Quelle: Frederic Kern/Geisler-Fotopress/
Eine junge Frau ist gestorben. Sie wurde 25 Jahre alt. Die Polizei fand ihren leblosen Körper in einer Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Fremdverschulden sei ausgeschlossen, hieß es. Kasia Lenhardt – Mutter, Model und Influencerin – hinterlässt einen kleinen Sohn. „Wir sind zutiefst erschüttert und trauern mit Kasias Familie“, schrieb ihre Agentur. Ihre Familie teilte mit: „Mit großer Bestürzung und Trauer müssen wir den unerwarteten Tod unserer geliebten Tochter Kasia am 9. Februar 2021 bestätigen.“
Das sind die Fakten. Das ist es, was bekannt ist. Kasia Lenhardt ist tot. Doch dieser Tod hat eine Vorgeschichte, und sie verrät viel über die Mechanismen eines Teils der modernen Medienwelt, die ihr Heil darin sieht, Menschen bedenkenlos als Gossip-Objekte und Glamour-Rohstoff auszubeuten, erst recht, wenn diese von sich aus nach Aufmerksamkeit streben. Die Unschuldsbeteuerungen klingen dabei immer gleich: Ist doch nicht unser Problem. Die profitieren doch davon! Kein Licht ohne Schatten. Im 21. Jahrhundert müssten doch die Gesetzmäßigkeiten einer Medienkarriere als Sternchen weithin bekannt sein. Und wer wie Kasia Lenhardt in der Hoffnung auf einen Karriereturbo das Licht der Öffentlichkeit aktiv suche, wer also von der Aufmerksamkeit profitiere, der müsse doch bitte schön auch fiese Schlagzeilen aushalten.
Die Frage ist nur: Was, wenn nicht? Was, wenn die Kraft nicht ausreicht, Verleumdung zu ertragen? Wer trägt dann die Verantwortung?
„Jetzt wird’s schmutzig“, frohlockte „Bild“
Kasia Lenhardt stand im Zentrum eines medialen Sturms, aus dem der Boulevard von RTL bis „Bild“ ordentlich Windenergie sog. Erst vor wenigen Tagen hatte sie sich nach 15 Monaten Beziehung von Fußballstar Jérôme Boateng getrennt. So weit, so privat. Während der zur Schlammschlacht hochgejazzten Trennungswehen aber hatte vor allem die „Bild“-Redaktion kaum Zweifel daran gelassen, wem in diesem Spiel die Rolle der teuflischen Manipulatorin und Intrigantin zuzusprechen sei und wem die des Prinzen in schimmernder Wehr. „Jetzt wird’s schmutzig“, frohlockte das Blatt fünf Tage vor ihrem Tod und zitierte unter anderem genüsslich aus den „privaten Nachrichten von Kasia an Boatengs Ex“.
Im Windschatten der Erregungsprofis überzogen Tausende von digitalen Zaungästen Lenhardt mit schwersten Beleidigungen, Häme und Hass. Es ist das vertraute Muster: Zur Hebung des eigenen Selbst taugt wenig so gut wie die aggressive Niedermachung prominenten Personals – erst recht, wenn Medien, die von genau dieser Erregung leben, so hübsch vorgeben, wer in diesem Drama die böse Königin ist.
Die Eigendynamik einer süffigen Boulevardstory
„Wer von den beiden nun wirklich das Opfer ist? Wer weiß das schon?“, barmt scheinheilig eine „Bild“-Redakteurin in einem Videoclip über den Vorgang – in einem Tonfall, den als „genüsslich“ zu bezeichnen wahrlich keine Übertreibung ist. „Fakt ist: Liebe ist nicht objektiv“, sagt sie weiter, vermeintlich sinnierend auf einem Sofa mit goldglitzernden Paillettenkissen liegend. „Eifersucht, Verlustangst, gebrochene Herzen – all das hat Menschen schon oft genug zu Verzweiflungstaten getrieben.“ Sie bezog sich mit diesem Wort auf die Wahl der Waffen im Rosenkrieg in den sozialen Netzwerken.
Und dennoch: Sie hätten gewarnt sein können. Niemand weiß, ob Kasia Lenhardt die Eigendynamik einer süffigen Boulevardstory unterschätzt hat. Niemand weiß, ob ihr Tod wirklich die Folge einer existenziellen psychischen Krise war, ausgelöst durch pausenlose Attacken wildfremder Menschen, sekundiert von einem Blatt, das unter Chefredakteur Julian Reichelt einen schlecht gelaunten, humorlos-aggressiven Kampagnenjournalismus praktiziert. Sicher aber ist, dass die Folgen davon, zum öffentlichen Objekt zu werden, selbst für Menschen, die sich ansonsten geschmeidig über rote Teppiche bewegen, unkalkulierbar sind.
„Zur Berufsbeschreibung des aggressiven People-Journalismus gehört auch, dass man das Gegenüber in seinem Schmerz kaum wahrnehmen kann. Das würde nur die Geschichte kaputt machen”, sagt Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und ein renommierter Publizist für Fragen der Medienethik. „Wir brauchen mehr Empathie für Medienopfer.“
Im Grunde entstehe durch eine solche Skandalisierungsgeschichte eine Art digitaler Zwilling der Betroffenen im öffentlichen Raum, sagt Pörksen – „eine zweite Figur mit hässlicher Fratze, die zwar so heißt wie man selbst, aber als fremdes und doch öffentlich maßgebliches Zerrbild eine ungeheuer schmerzhafte Demütigung des eigenen Selbst darstellt. Selbst wenn Sie bekannt und berühmt sind, haben Sie oft kaum Möglichkeiten der Gegenwehr.”
Der Tod ist nur noch eine Randnotiz
Lenhardt, die in Polen zur Welt kam, war 16 Jahre alt und Schülerin, als sie 2012 an der siebten Staffel von „Germany’s Next Topmodel“ mit Heidi Klum teilnahm. Sie erreichte Platz vier und galt anschließend durch ihre Aktivitäten in den sozialen Netzwerken als Influencerin. Bei Instagram hatte sie zuletzt 280.000 Follower. Ihr letzter Post vor einer Woche lautete: „Now is where you draw the line. Enough.“ Hier ziehe ich jetzt die Linie, es reicht.
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Auffallend ist, mit welcher Sachlichkeit „Bild“ den Tod von Lenhardt vermeldete: auf Seite 4 rechts oben. Plötzlich hieß die Frau, die zuvor noch als „Boateng-Ex“ firmierte und als Protagonistin zahlloser Beiträge einer der meistventilierten Namen im „Bild“-Kosmos war, nur noch „das Model Kasia Lenhardt“. Als sei die Meldung über ihren Tod der Erstkontakt für „Bild“-Leser: „Kasia Lenhardt stand zuletzt in der Öffentlichkeit durch ihre Beziehung mit Fußballstar Jérôme Boateng (32)“, heißt es da. Ach, tat sie das? Wie kam das bloß? Der Tod ist nur noch eine Randnotiz. Die bigotte Nüchternheit der Nachricht suggeriert, das Blatt hätte mit dem aggressiven Schlagzeilendauerfeuer der letzten Tage überhaupt nichts zu tun.
Warum diese Zurückhaltung? Auf diese Frage gab die Redaktion der “Bild”-Zeitung keine Antwort. Sie teilte auf Anfrage lediglich mit: “Der Tod von Kasia Lenhardt ist ein tragischer Fall. Wir trauern mit der Familie und sprechen unser tiefes Beileid aus. Mobbing und Hating in den sozialen Netzwerken sind nie akzeptabel.”
„Wie verzweifelt muss sie gewesen sein? Wie traurig?“
„Wie verzweifelt muss sie gewesen sein? Wie traurig?“, schrieb Cathy Hummels, die ebenfalls viel Hass und Häme erntete und ihre Depressionen öffentlich gemacht hatte, nach Lenhardts Tod auf Instagram. „Die Öffentlichkeit kann grausam sein. Ich will darauf aufmerksam machen, dass Hate, Bodyshaming und Cybermobbing aufhören muss. Es macht Menschen kaputt. Es tut mir so leid, liebe Kasia. Ich wünschte tatsachlich, dass ich dir geschrieben hätte. Auch, weil wir beide in der Fußballerwelt verkehren und ich weiß, wie brutal das sein kann. Mit wie vielen Vorurteilen, Neid und Missgunst man konfrontiert wird.“
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„Mit wie vielen Vorurteilen, Neid und Missgunst man konfrontiert wird“: Kasia Lenhardt 2012 bei einer Veranstaltung im Friedrichstadtpalast in Berlin.
© Quelle: imago images/APress
Lenhardts Tod als direkte Folge von Schlagzeilen zu bezeichnen wäre spekulativ. Niemand weiß Genaueres über das Beziehungsgeflecht, in dem sie sich verheddert haben könnte. Sicher aber ist, dass Worte Folgen haben. Die jetzige massenhafte Anteilnahme am Leben und Sterben der 25-Jährigen, die vielen Beileidsbekundungen und Solidaritätsappelle im Netz zeigen, wie groß das diffuse Unwohlsein über die zunehmende Aggressivität der öffentlichen Auseinandersetzung ist.
„Öffentliche Bloßstellung als Sport muss aufhören“, fordert seit Jahren eine Kronzeugin der Anklage, quasi „Patientin null“ der Seuche Sozialmobbing: Monica Lewinsky. Seit die frühere Praktikantin im Weißen Haus als Geliebte von Ex-US-Präsident Bill Clinton zum Sinnbild für moralischen Verfall gestempelt wurde, kämpft sie gegen Cybermobbing. 1998 sei sie „die erste Person gewesen, die ihren persönlichen Ruf weltweit augenblicklich verlor“, schrieb sie. Unzählige folgten.
Es ist ein paar Jahre her, da hat Oprah Winfrey mal die Zukunft des Fernsehens skizziert. Das war zu einer Zeit, als sich in den USA in der „Jerry Springer Show“ minderjährige Mütter prügelten, als in Castingshows weinende Kinder von eiskalten Dresseuren zu formattauglichen Archetypen geschliffen wurden. In Zukunft, sagte Oprah Winfrey, werde es um Gemeinschaftsgeist gehen, um Liebe und Motivation. Die Zeit der aggressiven Formate sei vorbei. Wer als Fernsehmacher Erfolg haben wolle, müsse mehr bieten als billige Schadenfreude, hässliche „Guck mal die da unten“-Reflexe und Freakshows. Das Rezept der Zukunft: Mitgefühl, Wärme, Empathie.
Häme ist heute ein Geschäftsmodell
Es kommt selten vor, dass Oprah Winfrey sich irrt. Damals aber, so bitter das ist, lag sie falsch. Häme ist heute ein Geschäftsmodell. Soziale Netzwerke belohnen Hass mit Aufmerksamkeit und beginnen erst allmählich und gegen innere Widerstände, sich der Folgen bewusst zu werden, selbst wenn sie das Werbemillionen kostet. „Ich kann damit umgehen, weil ich durch meine Vergangenheit viel gelernt hab“, schrieb Cathy Hummels bei Instagram. „Aber viele schaffen es nicht. Kasia hat es nicht geschafft.“
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Ein Jahr ist es her, dass die damals 24-jährige Lenhardt zum fünften Geburtstag ihres Sohnes schrieb, worauf es ihr wirklich ankomme im Leben. „Ich muss heulen wie ein kleines Kind“, schrieb sie damals, „denn diese Welt ist so wahnsinnig verwirrend, und es passieren so viele Dinge, doch egal was passiert, egal wie schwer es mal war, deine kleine Hand in meiner hat alles wieder gut gemacht ... Du bist so ein kleines zartes Wesen und gibst mir so viel ... Du gibst mir das Einzige, worauf es im Leben wirklich ankommt ... Liebe.“
Kasia Lenhardt starb am sechsten Geburtstag ihres Sohnes.
Sie leiden an Depressionen, krankhafter Niedergeschlagenheit oder haben düstere Gedanken? Bitte holen Sie sich Hilfe. Bei Notfällen können Sie unter 112 den Notarzt rufen. Das Infotelefon Depression hat die Telefonnummer (0800) 33 44 533. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar unter den Telefonnummern (0800) 11 10 111 oder (08 00) 11 10 222 oder 116 123. Weitere Informationen gibt es etwa bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe im Internet: www.deutsche-depressionshilfe.de